Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
Vom Netzwerk:
tip, Banane , ganz leise, versuche die Blicke der Umstehenden nicht zu beachten und gehe die zwei Blocks bis zu seinem Friseurladen-Keller. Ich suche nach Rissen im Pflaster, zähle Gehwegplatten, um die Bilder von meinem schreienden, aufgerissenen Zimmer unter Kontrolle zu bringen. Trotzdem fallen sie mich an: zersprungene Gipspuppengesichter, verstreute Schreibmaschinentypen – herausgerissen, nur noch leere kleine Höhlen, dort, wo sie einst befestigt waren – keine geduldigen, wärmenden Gruppen von neun und sechs und drei – nur ein einziges Massengrab.
    Ich erreiche die verkrusteten Marmorstufen des Friseursalons – einundfünfzig Gehwegplatten zwischen der Bushaltestelle und hier. Als ich anklopfe, erfüllt ein kribbeliges, überschäumendes Gefühl meinen Körper. Sechs Mal. Was wohl passiert, wenn er mich sieht: Ob er mich an seine Brust zieht? Ob er mich küsst? Oder ob ich ihn zuerst küssen muss, weil ich diejenige war, die einfach so weggelaufen ist? Ob ich es fertigbringe, mich zu entschuldigen? Ob er mich überhaupt lässt?
    Aber er kommt nicht zur Tür. Ich klopfe wieder. Neun, neun, sechs – ich tippe jeweils zwischen den einzelnen Klopfern mit einem Fuß auf den Boden. Krahhh  – schreit eine Krähe hinter mir, drei Mal. Drei Mal bedeutet Los; tu etwas; du wirst beschützt . Ich lege die Hand auf den Türknauf und drehe ihn. Die Tür geht auf.
    Ich klopfe tip tip tip, Banane. Tip tip tip, Banane. Tip tip tip, Banane . Es ist dunkel, kälter als draußen. Vorsichtig rufe ich seinen Namen: «Flynt?»
    Nichts.
    Ich gehe die gewundenen, halb zerstörten Betonstufen hinunter. Alles ist in ein nebliges blaues Licht getaucht. Es riecht nach Beton und trockenen Wänden, nach nichts Menschlichem.
    Unten angekommen, sackt mir das Herz in den Bauch.
    Alles ist weg. Weggeräumt. Leer, nur der Garderoben-Kühlschrank, die klumpige Couch und ein langer Tisch stehen noch da. Ich zwinkere heftig und hoffe, dass der Raum wieder voll ist, wenn ich die Augen öffne, dass Flynt an dem langen, mit Farbe beklecksten Holztisch sitzt und elfenhafte Tierfrauen mit Zweigen statt Armen und einem Zebraschopf zeichnet.
    Zwinker: immer noch leer. Ich bewege mich langsam auf den Tisch zu, fahre mit den Fingern über die getrocknete Farbe und wünsche mir, seine Hände wären ebenfalls da, damit wir uns berühren können.
    Vielleicht hat er Cleveland längst verlassen – er hat immer gesagt, dass er nicht länger als ein paar Monate an einem Ort bleiben könne – und ist weitergezogen nach Portland oder San Francisco, wie er es vorhatte. Vielleicht erhebt er sich schon aus der Asche einer anderen Stadt und wird zu jemand Neuem.
    Ich muss einen Panikanfall niederkämpfen. Ich durchsuche meine Tasche nach einem Zettel und einem Stift, aber das Einzige, was ich finde, ist ein zerknüllter Bon vom Supermarkt, der muss reichen. Ich balanciere meinen fast ausgetrockneten Kugelschreiber zwischen den Fingern, glätte den Bon mit der Handkante und schreibe, winzige zusammengepresste Worte.
Lieber Flynt,
es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich war verwirrt. Von dir, und von uns.
Es kann sein, dass ich jetzt weiß, wer Sapphire umgebracht hat. Ich gehe noch einmal ins Tens, um mit den Mädchen zu sprechen. Ich weiß, dass das gefährlich ist, aber ich muss es einfach tun.
Es fühlt sich so groß und schwer an, es auszusprechen, aber du bist der einzige Mensch, den ich je gekannt habe, der mir das Gefühl gibt, besser zu sein. Der mir das Gefühl von Hoffnung gibt.
Also, für den Fall, dass du das hier jemals findest: Danke.
… Königin P.
    Ich atme einmal tief durch, falte den Zettel drei Mal und schaue mich noch ein letztes Mal um. Die Dunkelheit legt sich auf jede Oberfläche und bedeckt Flynts altes Zuhause wie Schmutz.
    Die Stufen bröckeln beim Hinaufsteigen. Und oben habe ich plötzlich den Drang, mich zu verbeugen, bevor ich gehe. Sechs Mal. Vor jeder Ecke, dem Boden, den Spiegeln, der Decke. Tip tip tip, Banane. Plötzlich hört es sich sehr laut an, es prallt gegen die Wände und hallt kurz wider. Dann schließe ich die Tür hinter mir und springe mit einem Satz auf die Straße, verbeuge mich wieder, drei Mal, vor den Stufen, vor dem Friseurschild, das im Wind vor und zurück schwingt, in Richtung Himmel, diesem offenen Schlund.
    Ich gehe zum alten Vogelbad und lege den Zettel in die weiche, geschwungene Mulde, unter einen Stein. Selbst wenn er nie wieder zum Friseursalon geht – falls

Weitere Kostenlose Bücher