Schmetterlingsjagd (German Edition)
im Zahnfleisch spüre. Meine Mutter steht immer noch da und mustert uns.
Jeremy schaut zu meiner Mutter oben auf den Stufen. «Hallo, Mrs. Marin. Ich heiße Jeremy, ich bin Los, ähm, Lernpartner.» Er deutet auf den Ordner. «Ich habe ihr die Hausaufgaben vorbeigebracht.»
«Hmmm.» Ihre Augen sind zu Schlitzen verengt. «Komm mal hier hoch», sagt Mom mit zuckendem Mund an mich gewandt. Ich gehe die Stufen hoch. Plötzlich fallen mir die Sonderangebotsschwämmchen in der Jackentasche und der Entenregenschirm auf dem Schlafzimmerboden ein; für beide habe ich noch keinen Platz gefunden. Deshalb läuft hier alles schief und gerät außer Kontrolle. Ich bin plötzlich so überwältigt, dass ich kaum bemerke, dass Jeremy hinter mir die Treppe hochgegangen ist.
Ich will nicht, dass er Mom sieht, ihre ewig übelriechenden Jogginghosen mit den Kaffeeflecken, ihr strähniges, fettiges Haar. Ich will nicht, dass er mitbekommt, wie wir uns hier alle haben sterben lassen, dass wir schon längst begraben sind.
«Mom – Jeremy. Jeremy – Mom.» Ich wiederhole es flüsternd zwei Mal: Mom-Jeremy-Jeremy-Mom-Mom-Jeremy-Jeremy-Mom , voller Angst, dass er es hören könnte. Gleichzeitig gefällt mir, dass es so symmetrisch ist.
«Kennt dein Freund all deine kleinen Eigenheiten, Lo?», fragt Mom. Ich schaue weg, mir ist ganz heiß. «Na ja, so bist du nun mal, Schätzchen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sie nicht bemerken sollte.» Sie lacht ein wenig; irgendwie scheint sie zu glauben, dass sie witzig ist.
Ich werfe Jeremy einen schnellen Blick zu. Sein Gesicht glüht ebenfalls.
Sie lächelt. «Also deshalb bist du immer so herumgeschlichen, Lo?» Ihre Stimme klingt scherzend, so, als ob sie nur ein wenig Klatsch austauschen wollte.
Mein Kopf ist jetzt so glühend heiß, dass er kurz davor ist, in Flammen aufzugehen. «Nein, Mom», sage ich – da senken sich ihre Augenbrauen plötzlich wieder, sie fallen zusammen wie eine Zugbrücke, und ich weiß, sie hat sie überquert und ist wieder im Niemandsland.
«Du hättest mich nicht anlügen müssen. Das ist das Schlimmste daran, Lo. All die Lügen.» Sie zwingt eine Strähne ihres ungekämmten Haars hinter das Ohr, dreht sich abrupt um und schlurft zurück in ihr Zimmer. Der Fernseher geht wieder an: Einhundert Prozent der Mütter sind sich einig: Schimmel-Ex ist besser als andere Schimmelentferner!
Ich schnalze mit der Zunge, neun Mal, neun Mal, sechs Mal. «Tut mir leid», sage ich und bemühe mich, meine Hände stillzuhalten. «Danke für die Hausaufgaben. Das war wirklich nett von dir, Jeremy. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand gemerkt hat, dass ich nicht in der Schule war …»
Ich schaue kurz auf und mustere sein Gesicht: Er sieht überhaupt nicht erschrocken aus. Stattdessen wirkt er ernst, entschlossen, freundlich. Wahrscheinlich sieht er genau so aus, wenn er rennt, und er gewinnt jedes Mal . Wie oft Keri ihm wohl zuschaut? Ob er sie jemals in der Menge gesehen hat, am Start, die ganze Strecke noch vor ihm, lang und dunkel und endlos? «Lo», sagt er heiser und unterbricht meine Gedanken. «Ich merke es immer, wenn du nicht in der Schule bist. Letztes Jahr bist du fast einen ganzen Monat weggeblieben. Ich hatte schon Angst, dass du nie mehr wiederkommst.» Seine großen blauen Leinenschuhe sind leicht einwärts gedreht, der rechte stößt etwas an den linken. Er räuspert sich. «Und, um ehrlich zu sein, die Hausaufgaben waren bloß eine Ausrede, um dich sehen zu können.» Er wippt in seinen Schuhen vorwärts und fängt meinen Blick auf. Seine Augen sind weit, kristallblau. «Ich glaube, du weißt es längst, aber ich … ich kenne niemanden, der so ist wie du.»
«Jeremy …» Ich weiche einen Schritt zurück, zupfe an einem losen Faden an meinem rechten Ärmel und suche nach seinem Gegenstück auf dem linken. «Ich finde dich toll. Ich finde dich wirklich, wirklich nett.»
«Ich finde dich wirklich toll, ich habe das schon gefunden, seit …»
Ich unterbreche ihn. «Jeremy – du bist echt cool. Aber ich, ich bin … einfach nicht richtig. Für dich.»
Ich finde einen Faden auf dem linken Ärmel und ziehe ihn heraus. Suche nach seinem Gegenstück auf dem rechten. Und noch einen, links und rechts, damit es drei auf jeder Seite sind. Besser. Jeremy runzelt die Stirn, steckt die Hände in die Taschen seiner engen grauen Jeans und wippt hin und her.
«Ich finde … du solltest versuchen, jemanden zu treffen, der mehr …» Ich
Weitere Kostenlose Bücher