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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
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hat mehr Risse, als ich in Erinnerung habe. Ich muss vorsichtig sein, wenn ich die Bäume anschaue – wenn ich einen Riss verpasse, muss ich den ganzen Weg zurück zum Laden gehen, und wenn ich nicht bald etwas esse, werde ich ohnmächtig.
    Risse im Pflaster: sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig. Ich kicke Zweige auf die Straße, schiebe sie vom Bürgersteig, damit ich freie Bahn habe. Neunundzwanzig, dreißig, einunddreißig. Mit Zweigen auf dem Weg kann ich nicht gehen. Zweige zu meinen Füßen. Zweige in meinen Augen. Zweige in meinem Haar. Sie sind überall im Universum. Warum ist bloß alles plötzlich so voll?
    Deshalb war es keine gute Idee rauszugehen. Draußen kann man ersticken. Flynt hat mal gesagt: Jeder in Neverland ist ein Lügner. Er hatte recht, und der größte Lügner von allen ist er. Ich kann nicht glauben, dass ich auf ihn reingefallen bin, auf seine gruselige Zeichnerei und seine blöde Bärenmütze und sein schrulliges, jungenhaftes Getue.
    Ich klopfe tip tip tip, Banane , bis sich Handgelenke und Zunge wund anfühlen. Dann stehe ich an der Haltestelle der Linie 48 an der Eutaw Street.
    Der Bus kommt, er glänzt im Sonnenlicht. Ich klopfe tip tip tip, Banane , ein Mal rechts, ein Mal links. Die Busfahrerin wirft mir einen angeekelten Blick zu. «Ich wollte nur mein Kleingeld zählen», verkünde ich ein wenig zu laut. «Um sicherzugehen, dass ich auch genug dabeihabe.»
    Sie sagt nichts dazu und verdreht nur die Augen. «Setz dich, damit wir weiterfahren können.»
    Der Bus ist ziemlich voll. Nur neben einer alten Frau ist noch ein Platz frei. Sie riecht nach Kohl und rückt ein paar Zentimeter, als ich mich setze. «Keine Schule heute?», fragt sie. Sie hat einen dieser Regenschirme mit Griff in Form einer Ente. Er ragt aus ihrer großen gewebten Tasche, obwohl der Himmel strahlend blau und wolkenlos ist. Ihre Hände hat sie übereinander in den Schoß gelegt. Sie sehen aus wie Pizzateigklumpen.
    «Ich weiß nicht», antworte ich und muss ständig auf ihre dicken, faltigen kleinen Hände starren.
    Wie konnte ich nur so dumm sein? Er wollte mir nicht einmal seinen echten Namen verraten. Ich starre an der Frau mit dem Kohlatem vorbei aus dem Fenster und schaue zu, wie die Bäume vorbeigleiten. Stelle mir vor, wie Oren von einem zum nächsten springt wie ein langarmiger Affe.
    Ein Bild blitzt auf: die Faust des Mannes in meinem Mund. Meine Kehle, um die sich seine Hand schließt. Ich versuche zu schreien, der Raum ist so dunkel, der Drang durchzuckt mich wie Feuer – wie Säure.
    Die alte Frau neben mir regt sich, wendet sich mir zu. Sie runzelt die Stirn, Mitleid liegt in ihrem Blick. Ich drehe abrupt den Kopf weg.
    Noch ein Bild: Flynts warme Haut, seine Finger, die über mein Schlüsselbein streichen, über meine Lippen. Seine Lippen. Das Gewicht seines Körpers auf meinem. Unsere verschränkten Finger. Das Gefühl in meinem Bauch. Unsere Beine, ineinander verflochten auf dem Sofa.
    Ich habe ihm nichts bedeutet. Gar nichts.
    Ein Bild: das letzte Mal, dass ich Oren gesehen habe. So dünn – er war schon so mager, tiefe, violette Schatten unter seinen Augen, seine Hände zitterten. Er versuchte, sie in seinen Taschen zu vergraben. Ich seh dich auf der anderen Seite, Lope. Seine letzten Worte zu mir. Die andere Seite. Wusste er es da schon? Wusste er, dass er mich für immer verlassen würde?
    Ich seh dich auf der anderen Seite. Tut uns leid, dass wir Ihnen die schlechte Nachricht überbringen mussten.
    Zack.
    Ich spüre den Drang in mir größer werden – der Entenschirm. Er schaut faul aus der Tasche der alten Frau, er scheint auf diese bekannte Art zu glitzern und zu glänzen, so bedürftig. Sie schaut aus dem Fenster. Ich strecke meine Hand aus, berühre den hölzernen Kopf, das harte schwarze Auge – jetzt  – ich habe keine Wahl.
    Ich packe ihn und verstecke ihn unter meiner Jacke. Ihr Kopf fährt herum, die Hände fliegen sofort zu ihrer Tasche.
    «Was zum Teufel …?» Ihre Lippen bilden ein erschrecktes kleines O. Sie versucht dennoch Worte zu bilden. «Das ist mein Schirm . Was tust du …?» Sie legt die Hand auf ihre Brust, sie flattert direkt über ihrem Herzen.
    Ich springe auf. Drücke heftig auf den Halteknopf, zwei Haltestellen vor meiner – schlecht . Sie erhebt sich neben mir und streckt die Hand aus, als wolle sie mich zurückhalten, aber sie ist langsam, arthritisch. Scham pocht in meiner Brust, heiß und giftig. Ich schlängele mich schnell durch

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