Schmetterlingsjagd (German Edition)
Haus, meine Gewohnheiten, meine Nicht-Familie. Bald wissen es auch die anderen. Ich kann nicht mehr in die Schule gehen.
Ich nehme alles von der Nordwand herunter. Stelle es fünf Zentimeter höher.
Orens Gesicht taucht zwischen den Tasten der Olivetti auf. Seine Zähne: das Einzige, was noch aussah wie früher, nachdem die Haut schon zu verrotten begonnen hatte. Er war ganz allein gestorben.
Ich nehme Sapphires Notizen vom Stapel neben meinem Bett, stopfe sie zusammen mit dem Bustier in eine Kiste in meinem Schrank, die schon überquillt, und vergrabe sie unter einem Stapel anderer, schwererer Kisten.
Eine letzte Sache: der Schmetterling. Der ewige Anker in meiner linken Jackentasche, der unerbittliche Gleichgewichtsstörer. Ich schließe meine Finger darum, als könnte ich sein Leben in den warmen Falten meiner Handfläche auslöschen.
Ich lege die Schmetterlingsfigur mit den gefalteten Flügeln hoch über mich auf das höchstgelegene Regalbrett, damit sie über mir schweben kann. Das Brett ist voller Staub, das Brett des Verlustes, das Brett der Kapitulation.
Wo ich sie nie wieder sehen muss.
Wo sie wegflattern, verschwinden, sich auflösen wird. Allein.
Diiiing. Doooong. Es klingelt schon wieder an der Haustür.
Das muss Jeremy sein. Er hat etwas vergessen, oder er ist zurückgekommen und will eine Erklärung.
Diiiing. Doooong. Wenn ich nicht hingehe, wird Mom nach mir schreien.
Ich krieche los, die ganzen Stufen wieder herunter, erschauere, als ich an Orens Zimmer vorbeigehe, halte den Atem an, genau so, wie wir es immer getan haben, wenn wir am Friedhof vorbeikamen.
Ich bleibe an der unteren Stufe stehen und rufe zur Tür: «Geh weg, Jeremy. Bitte! »
Eine kurze Pause und dann: «Miss Marin, hier ist Officer Gardner, von der Cleveland-Polizei.» Eine Frauenstimme, sanft, ganz unpolizistisch.
Ich erstarre.
«Hallo? Miss Marin?» Sie klopft jetzt leise. Ich kann kaum atmen, schleiche zur Tür, öffne sie vorsichtig.
Officer Gardner von der Cleveland-Polizei lächelt mich sanft an. Sie ist hübscher, als Polizisten es normalerweise sind, mit welligem schwarzem Haar, das sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt hat, großen runden Augen, so dunkelbraun, dass sie fast schwarz aussehen. «Penelope?», fragt sie und zieht ihre Dienstmarke hervor. Dabei bläst sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Ich bin Officer Gardner. Du kannst mich aber Lucile nennen, wenn du willst.» Sie hat richtige Apfelbäckchen.
Mein Kiefer verspannt sich, ich richte mich auf. «Gibt es … gibt es ein Problem?», quieke ich. Die Zunge fühlt sich ganz locker und heiß in meinem Mund an. Sie haben es herausgefunden: die Diebstähle. Die Tatsache, dass ich in Sapphires Haus eingebrochen bin.
«Sind deine Eltern zu Hause?»
«Nein», lüge ich und starre auf einen Riss in meiner linken Socke. «Bei der Arbeit.»
«Tja», sagt sie und kratzt sich am rechten Ohr, weshalb ich mich am linken kratzen muss, dann wieder am rechten, und dann beide gleichzeitig, noch zwei Mal, ganz schnell, damit der Drang nachlässt. «Wäre es denn trotzdem in Ordnung, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?»
Ich stehe stumm da.
«Mach dir keine Sorgen, Penelope», sagt sie leise. «Du bist nicht in Schwierigkeiten. Ich habe nur ein paar Fragen zu Sapphire, okay?»
Hastig wende ich mich ab und tue so, als ob ich etwas nachschauen muss, und klopfe schnell tip tip tip, Banane . Dann sage ich erleichtert «Ja» und lasse sie hinein. Ich bete, dass Mom jetzt schläft oder vom Fernseher eingesaugt worden ist.
Ich führe Officer Lucile Gardner durch den gelblich beleuchteten Flur und ins Wohnzimmer. Damit sie sich nicht neben mich setzen kann, hocke ich mich mitten auf die Couch, und sie nimmt den großen, viel zu fest gepolsterten Ledersessel, den Oren sich von Dad zu Weihnachten gewünscht hatte.
Officer Lucile Gardner faltet die Hände um ihre Knie. Sie hat die Füße fest nebeneinander auf den Fußboden gestellt. «Ich habe dein Gespräch mit den Kollegen Pike und Graham mitgehört, auch dass sie dich weggeschickt haben und warum.» Sie versucht, meinen Blick aufzufangen, aber ich weiche aus. «Wie du weißt, haben wir bereits jemanden festgenommen, der in Verbindung mit dem Mord steht, aber ich bin nicht überzeugt … ich bin nicht überzeugt.»
«Warum nicht?» Mein Kopf fühlt sich ganz taub an, die Worte klingen losgelöst und hallen in mir wider.
«Manchmal … wie soll ich das ausdrücken? In Cleveland gibt es eine
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