Schmetterlingsjagd (German Edition)
Sapphires Gesicht, das neben mir zu Asche zerfällt.
«Penelope?» Officer Lucile Gardner erhebt sich aus Orens Weihnachtssessel. «Geht’s dir gut?»
Ich ziehe heftig an meinen Haaren, neun Mal auf jeder Seite. Officer Gardner versucht mir ihre Hände auf die Schultern zu legen, aber ich weiche zurück. Nein. Jede Unterbrechung bedeutet, dass ich wieder von vorn anfangen muss. Ich will aber nicht von vorn anfangen.
«Mir geht es gut», antworte ich schließlich mit einem kleinen Keuchen, sobald ich achtzehn Mal gezogen habe. «Es hat mich, ähm, ziemlich gejuckt.» Ich starre auf den Boden. «Muss noch eine Menge Hausaufgaben machen. Bin gerade ziemlich unter Druck.»
«Das ist schon in Ordnung», sagt sie sanft, «ich habe auch eine Menge zu tun; ich weiß noch, wie viele Hausaufgaben man in der High School aufbekommt. Viel zu viel, finde ich.» Sie lacht ein wenig verlegen und geht in Richtung Haustür. «Penelope, ich weiß wie leicht es ist, an den Dingen zu verzweifeln, aber manchmal braucht es nur jemanden, der sich kümmert. Jemand, der andere dazu bringt, sich zu kümmern.» Sie ist jetzt an der Tür und legt die Hand auf den Knauf. «Ich bin noch nicht bereit aufzugeben.» Sie öffnet sich selbst die Tür und lässt mich im Flur stehen.
Ausgerechnet jetzt: Dads Honda fährt die Einfahrt hoch, gerade als Lucile in ihren weißen Cleveland-Polizeiwagen steigt. Die Blätter der Bäume sind ganz unbewegt, nur ein ganz leichtes Lüftchen weht.
Die Autotüren knallen genau gleichzeitig; ihre Reifen knirschen über den Kies und entfernen sich langsam; ich höre seine Schritte in der Garage, und die Tür öffnet und schließt sich.
«Lo?» Er schreit schon fast, als er hereinstürmt. «Was hat der Polizist hier gewollt?»
«Polizist in », entgegne ich trocken.
Er schält sich aus seinem Mantel und hält ihn so fest, dass die Knöchel ganz weiß werden. Außerdem hat er noch seine Aktentasche und den Reisekoffer in der Hand. «Sei nicht frech, Lo. Antworte mir.»
«Es war nichts , Dad. Nichts Wichtiges. Routine.» Das Wort Schlampe schlittert durch mein Hirn. So. Eifersüchtig. Der eifersüchtige Typ Freund.
Bird. Das ist die einzige Erklärung. Ich glaube, mir wird schlecht.
«Routine?», knurrt er, lehnt den Koffer an die Wand und lässt die Aktentasche auf den Boden fallen. Er kommt auf mich zu. «Glaubst du wirklich, dass ich so dumm bin, Lo? Dass ich nicht merke, wenn du mich anlügst?»
Ich antworte nicht. Ich reibe mein rechtes Bein. Dann mein linkes. Neun, neun, sechs.
«Hör endlich mit dieser Scheiße auf und antworte mir.» Ich sehe, wie sich seine Halsmuskeln anspannen. Die Ader auf seiner Stirn tritt hervor. «Was hast du angestellt, hä? Klaust du wieder?»
Er hat mein Zählen unterbrochen. Ich muss wieder von vorne anfangen. Diesmal zähle ich laut, die einzige Möglichkeit, alles richtig zu machen.
«PENELOPE. MARIN. HÖR AUF .» Er stürzt auf mich zu und reißt die Hand von meinem rechten Schenkel. Ich kämpfe mit ihm und schiebe mit meiner anderen Hand seinen Arm weg, stoße ihn mit all meiner Kraft von mir.
«Lass mich los!», schreie ich und versuche, meine Hand in Richtung Wand zu bringen. Ich muss tippen. Ich muss ziehen.
«Hör auf, Penelope! Hör einfach auf und hör mir zu!»
«Lass mich los !» Ich reiße mich von ihm los.
Irgendetwas verändert sich: Er gibt auf und sinkt in sich zusammen, klein, besiegt.
Befreit reibe ich die Hand an meiner Cordhose – neun, neun, sechs, dann auf der anderen Seite. Er beobachtet mich müde, stumm. Sobald ich fertig bin, dränge ich mich an ihm vorbei, nehme meine Jacke und stürme aus der Tür. Tip tip tip, Banane; tip tip tip, Banane; tip tip tip, Banane. Ich weiß nicht einmal, wohin ich laufe. Ich kann nirgends hin. Aber ich will raus und weg.
Allein auf der kalten Bank an der Bushaltestelle, schlucke ich etwas Salziges. Da erst merke ich, dass ich schon wieder weine.
Als ich ungefähr fünf oder sechs Jahre alt war, bin ich einmal mit Dad ins Kino gegangen. Auf der Fahrt nach Hause bin ich eingeschlafen, und er hat mich ins Haus getragen, meine Haare hingen lang und nach Kaugummi-Shampoo duftend seinen Rücken hinunter. Er hat gedacht, dass ich schlafe, aber er hat mir trotzdem leise ins Ohr gesungen. Riders on the Storm von den Doors. Das hat er mir immer als Schlaflied vorgesungen. Jeden Abend, ohne Ausnahme. Ich konnte ohne nicht einschlafen.
Der Bus kommt. Die Türen schwingen auf, verschlucken mich und schließen sich
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