Schmetterlingsjagd (German Edition)
Hayes», antwortet Joe, ohne den Blick vom Spiel zu lösen.
Ich flüstere die Adresse ins Telefon, und Dad flucht. «Ich bin schon auf dem Weg.»
Klick.
Die Bar ist kaum beleuchtet, nur eine Kette Weihnachtslichter, von denen die Hälfte durchgebrannt ist, wirft einen trüben Schein auf die Schnapsflaschenreihen. Zittrig setze ich mich auf einen Drehhocker an der Bar und senke den Blick, um die Wasserränder auf dem Tresen zu zählen – zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, fünfzehneinhalb …
Eine Tür am anderen Ende des Raums fliegt auf, und ein langhaariger, krummer Mann kommt herausgepoltert. Er hält einen Besen in der Hand und fängt an, die zerknüllten Servietten und Erdnussschalen und den ganzen anderen Dreck auf dem Boden zusammenzufegen. Dabei pfeift er schmerzhaft schräg. Ich fange wieder von vorne an zu zählen. Neun, zehn, elf, zwölf …
Joe reißt sich vom Fernseher los und schreit ihn an: «Herrgott noch mal, Paul. Mach mal halblang, okay?»
«Hey … Joey», sagt der Mann mit der quakenden Stimme eines Ochsenfrosches. «Schalt einfach mal Musik an, dann muss ich mir nicht meine eigene machen.»
Joe lacht und stützt sich mit seinen knochigen Ellenbogen auf den Tresen. Dabei hängt sein T-Shirt nach vorn, sodass sich Alice in Chains wie ein Zelt um seinen Brustkorb bläht. «Wenn ich dir so zuhöre, wünsche ich mir, Bird wäre wieder hier, weißt du?»
Mein Herz setzt fast aus. Ich klammere mich an der Kante des Tresens fest. «Sie kennen Bird?», platze ich hervor.
«Ja klar», sagt Joe und schüttelt den Kopf. «Er hat hier ein bisschen ausgeholfen. Mannomann, der Junge konnte pfeifen wie eine verdammte Nachtigall .»
Die anderen nicken zustimmend.
Ich gleite halb vom Hocker. Mein Körper fühlt sich wackelig und irgendwie gelöst an: Flynt kann nicht pfeifen. Ich weiß genau, dass er es nicht kann – dass er nicht mit dem Pfeif-Gen gesegnet ist . Das hat er mir selbst bei unserem ersten Treffen erzählt; wir haben beide darüber gelacht. Es fühlt sich an, als ob eine Million Finger meine Kehle zudrücken, aber dennoch würge ich hervor: «Wissen Sie … wissen Sie, wo ich ihn finde?»
Joe knackt mit den Fingergelenken. Er wechselt einen Blick mit Paul.
Dann schüttelt er den Kopf und lächelt schwach. «Warum – hat er dich geschwängert oder so? Schuldet er dir Geld? Ich mach nur Quatsch, er war ein guter Junge.»
«War?», frage ich.
Joe zuckt mit den Schultern. «Er ist schon längere Zeit nicht mehr hier gewesen.»
«Ich muss ihm nur eine Frage stellen. Das ist alles. Ich habe etwas … ich habe etwas, das ihm gehört.» Das ist gewissermaßen wahr. Ich habe jetzt Sapphire, sie schwebt immer um mich herum.
Joe zuckt wieder mit den Schultern. «Vielleicht reden wir gar nicht über denselben Bird. Großgewachsener Typ? Schwarzes Haar bis ungefähr» – er hält die Handfläche waagerecht in Höhe seines Ohres – «hier? Leberfleck mitten auf der Stirn?»
All meine Organe fühlen sich weich und locker an. Die Beschreibung … die Größe. Die Haare. Er konnte pfeifen wie ein Vogel und hatte einen Leberfleck genau in der Mitte der Stirn, den er immer hasste. Deshalb trug er jeden Tag Baseballkappen, um ihn zu verdecken.
Alles in mir zerplatzt und fällt – mitten durch die Erde, mitten hindurch zum flüssigen, wirbelnden Kern.
Mein Bruder. Oren.
Bird.
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Kapitel 26
«Du kennst ihn?», fragt Joe.
Ich nicke langsam und schwanke im Dämmerlicht. Er bückt sich und zieht etwas aus einer Plastikschublade unter dem Tresen. «Dann nimm das hier mit», sagt er und wirft mir eine dunkelblaue Baseballkappe mit einem weißen D darauf zu, «die liegt schon ewig hinter dem Tresen.»
Orens Lieblings-Detroit-Tigers-Kappe, die er jeden Tag trug, in meinen Händen. Ein hochgeschätztes Teil seiner Sammlung. Meine Kehle scheint sich zu spalten; ein merkwürdiges, geschundenes Wimmern entrinnt ihr.
Die widerhallenden Geräusche der Bar, das Jubeln aus dem Fernseher, das Gläserklirren und Scharren von Schuhen auf dem Linoleum um mich herum schmelzen zu nichts. Ich lasse mich zurück auf meinen Hocker fallen.
Oren war Bird, was bedeutet, dass Bird nichts mit Sapphires Mord zu tun haben konnte, weil Oren seit über einem Jahr tot ist. Mein Atem geht jetzt stoßweise.
Noch etwas aus dem Leben meines Bruders, von dem wir nichts wussten.
Ein Schauder kriecht meinen Rücken hoch: Sapphire war … Orens Freundin.
Tweedmütze steht auf. Aus dem
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