Schmetterlingsjagd (German Edition)
quietschend. Die Vorstädte drehen und winden sich um mich, und plötzlich haben sich die Straßen in ein Puzzle aus Schlaglöchern und Rissen verwandelt, die Gebäude: geflickte Konstruktionen, kastige Wesen mit eingeschlagenen Köpfen.
Ich bin wieder in Neverland.
Ziellos wandere ich herum, und irgendwie finde ich den Weg zur Lourraine Street, zu Sapphires Haus – kotzegelb, die leuchtenden Gänseblümchen sehen träge aus im weichen Licht der Abendsonne. Schlampe Schlampe Schlampe – das Wort brennt sich in meinen Kopf ein. Falsch – möchte ich schreien – du hast alles total falsch verstanden .
Ein Umzugsunternehmen ist da, sie packen ihre Sachen in Kisten und stapeln sie schlampig auf dem Bürgersteig, um sie am nächsten Tag abzuholen. Instinktiv greife ich in meine Tasche und taste nach dem Schmetterling. Nicht da. Ich habe ihn herausgeholt und ganz nach oben auf ein Regalbrett gelegt. Ich dachte, so könnte ich sie loswerden.
Ich schleiche näher an den traurigen Kistenstapel heran.
Mein eigenes Leben wird auch irgendwann darauf zusammenschrumpfen. Traurige kleine Kisten voller Dinge. Müll, der entsorgt wird.
Der Drang durchzuckt mich. Ich greife in eine Kiste und ziehe den ersten Gegenstand heraus, den ich in die Finger bekomme: einen Nagelknipser. Den werde ich retten. Mit dem Finger streiche ich über seine rostig-silbrige Oberfläche. Ich werde ihn wichtig nehmen, auch wenn er nur ein winziger Gegenstand ist, den sie wahrscheinlich in ihrer Nachttischschublade aufbewahrt und nur alle zwei Wochen herausgenommen hat. Ein neuer Kummer erfüllt meine Brust, und ich gehe weiter, ohne darauf zu achten, wohin.
Die Sonne geht hinter den hohlen Bäumen und den baufälligen Gebäuden von Neverland unter. Ich betaste den Knipser in meiner Tasche und biege in ein enges Gässchen ein, das zwischen zwei grauen Betonlagerhäusern liegt. Ich muss an die Männer denken, die Sapphires Dinge in Pappkisten gepackt haben – Männer, die von der Stadt beauftragt wurden, Männer, die sie nicht kannten und morgen nicht mehr an sie denken werden, wenn sie sich wieder in ihre eigenen kleinen müden Leben zurückziehen.
Für eine Schlampe – das Wort, schon wieder das Wort – gibt es keine Trauer. Mit der Handfläche fahre ich über das Metall und spüre, wie sich die Spitze wie ein Zahn in meine Haut bohrt. Sapphires Zahn.
Quiiiiietsch – Reifen schrammen am Bürgersteig entlang, ganz in der Nähe.
Sehr nahe.
Schotter trifft meinen Rücken, ein paar winzige Steinchen prasseln gegen meine Jacke, ein Hitzestrahl – ein neues Licht trifft meine Ärmel, es brennt, es ist zu heiß.
Ich drehe mich um. Mein Atem stockt.
Ich versuche zu schreien, aber meine Kehle fühlt sich an wie mit Stahlwolle gefüllt; der Laut verfängt sich, wird erstickt.
Ich versuche etwas zu erkennen, aber die Scheinwerfer der Limousine rasen in dem engen Gässchen auf mich zu, sie blenden mich. Die Wände bewegen sich aufeinander zu, immer weiter, und halten mich gefangen.
Ich kann nirgends hin – auf beiden Seiten gibt es keinen Platz.
Verzweifelt winke ich mit beiden Armen, hin und her, und hoffe, dass mich der Fahrer noch sieht und abbremst.
Aber schnell erkenne ich: Das Auto wird nicht langsamer.
Es ist meinetwegen da.
Es wird mich überfahren.
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Kapitel 25
Der Motor heult hinter mir auf, wird schneller, Lichter bohren sich in meinen Rücken. Beim Rennen auf dem unebenen Pflaster reißen meine Schuhe auf.
Näher, es kommt näher – ich weiß nicht, wo ich hinsoll – mein Herz rast. Ich bin nicht schnell genug.
Bird will, dass ich sterbe. Flynt will, dass ich sterbe, damit ich nicht reden kann. Wie ein totgefahrenes Tier. Sie wollen mich zermalmen, zerquetschen, mich begraben.
Näher. Ich stolpere und kann mich gerade noch fangen. Quieeeetsch. Meine Beine geben nach.
Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit zu schreien.
Und dann, plötzlich – die Mauer endet hier – ein leerer Raum – ein Eingang . Eine weitere Gasse. Ich klopfe tip tip tip, Banane und werfe mich verzweifelt in ihr dunkles Maul. Das Auto fährt an mir vorbei, verfehlt mich um ein paar Zentimeter und schlittert fort. Ich renne keuchend durch die enge Gasse, ein Streifen Himmel zittert über mir.
Am gegenüberliegenden Ende der Gasse bleibe ich stehen, lehne meinen Kopf an die Ziegelwand und versuche, Atem zu schöpfen, direkt neben einem Graffiti, auf dem in runden, lockeren Buchstaben LIL’DEV steht, rot und
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