Schmetterlingstod: Kriminalroman (German Edition)
damit nichts zu tun. Sondern mit dem Verrückten. Hab ich den gar nicht
erwähnt?«
»Mit keinem
Wort.«
»Meine Güte!«
Tante Ju verlagerte ihr Gewicht, und der Stuhl protestierte knarrend. »Ein total
Bekloppter. Groß wie ein Bär! Mit einem Walrossschnauzer. Steht da auf einmal oben
vor einem unserer Kundentresen. Kann kaum Deutsch, faselt irgendwas vor sich hin.
Angeblich auf Russisch. Jedenfalls klang es für einige unserer geschätzten Mitarbeiter
danach. Und urplötzlich dreht der Kerl durch. Er schlägt einen Praktikanten nieder,
schreit wie am Spieß, und dann fängt er an, mit einer Eisenstange die Schreibtische
kurz und klein zu kloppen.«
»Jemand
verletzt?«
»Nasenbeinbruch
beim Prakti. Und ein mächtiger Schock für den Rest der Bande.«
»Wie ging’s
weiter?«
»So unerklärlich,
wie es angefangen hat: Plötzlich hält der Bär inne, mitten im Schlag. Er blickt
sich um, als wäre ihm erst bewusst geworden, was er angerichtet hat. Dann rennt
er einfach los, raus auf die Straße.« Tante Ju lachte ratlos. »Tja. Und ward nicht
mehr gesehen.«
»Komische
Geschichte.«
»Mehr als
komisch. Wir haben natürlich sofort die Polizei informiert. Unsere Freunde und Helfer
waren auch gleich da, nahmen die Beschreibung auf, aber seitdem habe ich nichts
mehr über diesen rauflustigen Besucher gehört.«
»Da lebt
man in einer ruhigen, schönen Stadt – und trotzdem kann man nie sicher sein, ob
man nicht plötzlich Jack the Ripper über den Weg läuft.«
»Ach, Johnny«,
meinte Tante Ju in versöhnlichem Ton, »ganz so schwarz musst du es auch nicht sehen.
Oder liegt das daran, dass du gerade mal keine Glückssträhne hast?«
»Gerade
mal? Das hast du wirklich nett ausgedrückt.«
John kannte
Tante Ju schon lange. Sie lebte in demselben schmucklosen Block wie er. Als er nach
der Beerdigung seiner Mutter seine Wohnungstür aufschloss und das Gefühl hatte,
das Ende der Welt wäre gekommen, stand sie plötzlich neben ihm. Sie starrte in seine
verweinten Augen und lud ihn auf eine Tasse Kaffee in ihr Wohnzimmer ein. Das war
der Beginn ihrer kuriosen Freundschaft. Das Unikum aus dem Keller der Zeitung und
der junge Mann, der den eigenen Vater nie kennengelernt und seine Mutter aufgrund
einer Krebserkrankung verloren hatte. Sein Vater war ein kanadischer Soldat gewesen,
stationiert in Lahr. Henry Wallace. Wenn John in den Spiegel sah, musste er zwangsläufig
an diesen Fremden denken: Henry war Schwarzer, und Johns Hautfarbe war eine Mischung
aus dem Teint seines Vaters und dem seiner deutschen Mutter. Kurz nach Johns Geburt
wurde Henry in die Heimat versetzt – und hatte dafür gesorgt, dass der Kontakt nach
Deutschland abbrach. Anna Dietz zog ihren John allein auf. Sie war sein Anker gewesen.
Nun war sie bereits über drei Jahre tot. Drei Jahre, in denen er noch richtungsloser
gewesen war als zu ihren Lebezeiten. Bis ihm die Idee mit der Detektei gekommen
war.
»Also, Junge,
nun sag schon. Was ist mit dieser Frau auf dem Foto?« Tante Jus Blick ruhte voller
Zuneigung auf ihm.
In knappen
Worten umriss John das, was Laura Winter ihm erzählt hatte.
Tante Ju
hob die Augenbrauen. »Auch das klingt nach einer komischen Geschichte.«
»Vor allem
ist es eine, bei der ich gar nicht vorankomme.« Er erhob sich von dem Hocker, auf
dem er immer saß, wenn er ihr einen raschen Besuch abstattete.
»Johnny,
zeig mir noch mal das Bild.« Wie zuvor blinzelte sie Felicitas’ Gesicht eine Weile
prüfend an. »Ich weiß nicht recht. Irgendwie kommt sie mir vielleicht doch bekannt
vor.«
»Wirklich?«
John zweifelte. Offenbar war es ihr bloß zuwider, ihn mit einer negativen Antwort
gehen zu lassen.
»Wer weiß,
womöglich fällt mir ja noch was ein. Mein Oberstübchen ist genauso verstaubt wie
dieses Büro. Muss wohl mein Gedächtnis ein bisschen ölen.« Lächelnd nahm sie einen
Schluck Kaffee, der bestimmt längst eiskalt war. Tante Ju trank immer aus mehreren
Tassen parallel.
»Falls dir
noch etwas einfällt«, antworte John ohne Hoffnung, »dann …«
»… dann
sag ich dir Bescheid.« Lächelnd steckte sie sich eine Zigarette an. Im gesamten
Gebäude herrschte Rauchverbot – nur Tante Ju in ihrem kleinen Reich setzte sich
darüber hinweg. Und man ließ sie gewähren. Vielleicht einfach deshalb, weil außer
ihr ohnehin niemand das enge Zimmerchen betrat.
»Danke,
Tante Ju.«
»Für was
denn, Junge?« Sie warf ihm einen Handkuss zu.
Als er das
Gebäude verließ, stand John einen langen Moment unschlüssig
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