Schmetterlingstod: Kriminalroman (German Edition)
viel gesagt. Eine attraktive junge Frau. Ob sie sich in den Seminaren zu
Wort gemeldet hat, ob sie ein Referat gehalten hat, das weiß ich beim besten Willen
nicht mehr. Über eine ihrer Arbeiten habe ich nie mit ihr gesprochen, folglich wird
sie keine eingereicht haben.«
»Ist das
möglich? Ich meine, nur teilzunehmen, ohne …«
»Ach, alles
ist möglich. Manche Studenten kommen zwei- oder dreimal, um dann nie wieder aufzutauchen.
Und geben trotzdem eine Seminararbeit ab. Andere sind jedes Mal da, beteiligen sich
rege an den Diskussionen – und man bekommt keine einzige Zeile von ihnen zu lesen.«
Trebitsch lächelte. Aber nicht belustigt oder freundlich, sondern ungeduldig.
»Und sonst
können Sie mir wirklich nichts über die Studentin …?«
»Gar nichts«,
fiel der Professor John ins Wort. »Wie ich schon der blonden Dame erklärte.«
»Und Sie
wüssten auch nicht, an wen ich mich …?« Ein entschiedenes Kopfschütteln brachte
John dazu, den Satz verklingen zu lassen.
»Sie können
sich nicht vorstellen, mit wie vielen Gesichtern man es im Laufe auch nur eines
einzigen Semesters zu tun bekommt, Herr …«
»Dietz.«
»Viel zu
viele Gesichter.«
»Aber bestimmt
wenige, die derart hübsch sind, oder?«
»Es tut
mir wirklich sehr leid, dass diese Studentin tot ist. Und auch, dass ich Ihnen keine
größere Hilfe sein kann.«
»Danke,
dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
Trebitsch
nickte und hatte sich bereits umgedreht, um auf eine der Bürotüren zuzumarschieren.
Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwand er dahinter.
John Dietz
starrte den Gang hinab. Er hatte mit nichts anderem gerechnet als mit einem solchen
Gespräch. Erst ein paar kurze Unterhaltungen im Historischen, dann welche im Deutschen
Seminar. Eine mühsame Befragung in der Universitätsverwaltung. Davor drei oder vier
knappe Gespräche im Studentenwohnheim. Nicht einmal dort konnte sich jemand an Felicitas
Winter erinnern. Abgesehen von dem Hausmeister, der allerdings bloß sagte, wie hübsch
›die Kleine‹ gewesen sei, und sich dann wieder mit dem Fahrrad einer Studentin beschäftigte,
das er aus Gefälligkeit reparierte. »Auch ‘ne Hübsche«, meinte er.
»Gab es
jemals Probleme mit den Briefkästen?«, hatte John gefragt.
Was ihm
einen verständnislosen Blick eintrug. »Probleme?«
»Na ja,
wurden die mal von irgendwelchen Spinnern kaputtgemacht? Kam Post weg? Irgendetwas
in der Art?«
»Nichts
in der Art, junger Mann. Und auch nichts in einer anderen Art. Hier läuft alles
sauber. Dafür sorge ich schon.«
Noch bevor
John sich auf den Weg zum Wohnheim gemacht hatte, war er mit dem Rad in die Kartäuserstraße
gefahren. Ein unbestimmtes Gefühl, vielleicht einfach bloß Neugier, hatte ihn zu
der Stelle geführt, an der der Unfall geschehen war. Minutenlang hatte er einfach
da gestanden, ohne speziellen Grund, ohne etwas Besonderes zu entdecken. Allerdings
wollte er sich der Sache nicht annehmen, ohne wenigstens einmal den Ort besucht
zu haben, an dem Felicitas Winter gestorben war.
Die Sonne
blendete John, als er vor das Kollegiengebäude trat. Er trug Jeans, Kapuzenpullover
und darüber die hüftlange Lederjacke, die ziemlich abgewetzt war, und angesichts
dieses letzten heftigen Aufbäumens des Sommers wurde ihm sofort warm. Er ließ sich
auf der Wiese nieder, auf der es sich mittlerweile noch mehr Studenten bequem gemacht
hatten, und streckte die Beine aus. Ein kleines Déjà-vu-Erlebnis – wie bereits zuvor
im Inneren der dicken Universitätsmauern. Er erinnerte sich an viele Stunden, die
er hier zugebracht hatte, statt sich mit seinen Büchern zu beschäftigen. Ohne besondere
Aufmerksamkeit lauschte er den Gesprächen um sich herum – sie hörten sich genau
an wie die, an denen er sich früher schon nicht beteiligt hatte. Aus der Jackentasche
holte er die Fotografie, die Laura Winter ihm überlassen hatte.
Eingehend
betrachtete er das Frauengesicht, das ihm von dem Bild mit sympathischem und irgendwie
vorwitzigem Lächeln entgegenstarrte. Im ersten Moment war keinerlei Ähnlichkeit
zwischen den Schwestern auszumachen. Beide waren attraktiv, jedoch auf unterschiedliche
Weise – Laura die kühlere, mit klarem Blick aus ebenso klaren blauen Augen. Und
Felicitas?
»Was für
ein Mädchen warst du?«, flüsterte John dem Foto kaum hörbar zu. Die Unterhaltungen
rund um ihn vermischten sich zu einem monotonen Gebrumm.
Schwarzes
Haar, dunkle Augen, weiche Lippen. Eine schöne junge Frau, keine Frage. Eine
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