Schmidts Bewährung
den Dingen wäre, die man Jon vorgeworfen hat. Etwas, wofür du dir Vergebung wünschst.
Etwas von derselben Art? Niemals.
X
Eine geradlinige Frage, ausweichend beantwortet: »Von derselben Art? Niemals.« Wohl wahr. Niemals hatte er jemandem versiegelte Akten zugänglich gemacht, der nicht zur Einsicht berechtigt war, und niemals hatte er sich in eine Situation gebracht, aus der man auf ein dermaßen abscheuliches Verhalten hätte schließen können. Und sonst? Üble Niedertracht, hochriskanter Leichtsinn, unnötige Lügen aller Arten? Nie soll man die Antwort »Niemals« hinnehmen. Es war zu vermuten, daß Dr. Renata die Abgründe der menschlichen Seele gut genug kannte, um weiter zu bohren. Vielleicht hatte das Unglück ihr die Schärfe genommen. Als Schmidt auf dem Heimweg über den Long Island Expressway raste, der wochentags in der Zeit kurz nach dem Essen herrlich leer war, schob er das Thema beiseite wie einen Brief, dessen traurigen Inhalt man antizipiert, sobald man die wohlvertraute Handschrift auf dem Umschlag sieht. Er rührte nicht daran, während er seinen Wagen steuerte und am Autoradio drehte.
Nur wenig Zeit verging, dann nahm er die wöchentlichen Anrufe bei Charlotte wieder auf, meistens mittwochs früh, damit sie die Gelegenheit ergreifen konnte, ganz nebenbei zu sagen, daß sie gerne am Wochenende zu Besuch kommen würde. Er konnte es nicht ertragen, den Kontakt zu verlieren. Sie redeten über Charlottes Arbeit – man hatte ihr zusätzlich den Auftrag eines reichen Indianerstamms anvertraut, der auf seinem Gebiet bald ein Casino eröffnen würde – und über das Wetter. Dies war Schmidts Thema. Teils trieb er damit Werbung für Long Island im Frühherbst – milde Tage, klare Luft am Strand, Fernsicht bis Montauk, lange, träge Brecher und ein Ozean,der noch so warm ist, daß entschlossene Schwimmer sich hineinstürzen können, die späten Rosen in seinem Garten –, und teils versuchte er auf diese Weise, ihr anzudeuten, daß er ständig an sie dachte. Zum Beispiel, wenn er sie vor dem heftigen Regen warnte, der laut Wettervorhersage der Stadt am Freitag bevorstand, ausgerechnet an dem Tag, da sie einen Präsentationstermin im Zentrum hatte; oder wenn er besorgt fragte, ob sie wohl ein Taxi, zunächst zu ihrem Büro und dann zu ihrem Kunden bekommen werde, damit sie nicht völlig durchweicht auftreten müsse; nach einer regenlosen Woche fürchtete er eine Dürre. Natürlich blieb Charlotte an all diesen verhalten und sehnsüchtig angepriesenen Long-Island-Wochenenden in der Stadt, wenn sie nicht Kurzreisen zu anderen Zielpunkten unternahm, ohne sich die Mühe zu machen, Schmidt eigens davon in Kenntnis zu setzen. Nach Claverack zum Beispiel. Oder fuhr sie in die Berkshires? Man konnte es nicht wissen: Womöglich waren sie und Mr. Polk wieder als Kollegen miteinander befreundet, so daß sie ihn und seine Frau vielleicht im Ferienhaus in Egremont besuchte. Den Brief, der Renata oder Jon Riker oder die Eltern Riker auf den Plan gerufen hatte, erwähnte sie mit keinem Wort. Die seltsame Tatsache, daß er nicht wußte, wo Charlotte wohnte – wo sie schlief, meinte er damit –, war Schmidt unangenehm gegenwärtig. Er fragte sich, ob ihr dies so bewußt war. Wahrscheinlicher schien ihm, daß sie meinte, sie habe es ihm erzählt. Da er nicht annahm, daß er sie dringend außerhalb ihrer Dienstzeit würde erreichen müssen, beschloß er, sie nicht nach ihrer Privatnummer zu fragen. Wie Mr. Mansour vielleicht sagen würde: Er konnte keine Probleme brauchen und auf die Beschimpfungen verzichten, die eine falsch verstandene oder zur falschen Zeit gestellte Frage auslösen mochte.
Am zweiten Sonntag im Oktober – Carrie und Jasonnahmen als Team an den Triathlon-Wettkämpfen des Polizeivereins Riverhead teil – bekam Schmidt einen Anruf von Mike Mansour. Tut mir leid, daß ich dich in den letzten Wochen nicht erreicht habe. Geht’s dir gut? Mir geht es bestens, wirklich wahr. Ich mußte nach L. A., die Aufträge häuften sich, und ich hatte mit den Jungs über Verteilung zu reden. Richtig, Chocolate Kisses ist der Hit! Das muß man ihm lassen. Seit ich sein Produzent bin, bringt er viel zustande und hört wirklich auf meinen Rat. Man merkt’s, sage ich dir. Wann Gil wiederkommt? Ende des Monats. Übrigens werde ich alle Zentren meiner Stiftung besuchen. Stimmt. Alle zweiundvierzig. Das heißt, rechtzeitig zu Thanksgiving bin ich wieder da. Dich und Carrie erwarte ich zum Thanksgiving-Essen, in
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