Schmidts Einsicht
Er hatte eigentlich nichts gegen sie gehabt, war sich aber in ihrer Gegenwart immer plump und ungehobelt vorgekommen. Einige von ihnen, denen er später hier und da wieder begegnet war, hatten sich geoutet, so wie die homosexuellen Autoren, deren Bücher Mary betreut hatte, die beiden Kollegen in ihrem Verlag, die als Schwule bekannt waren, und das wechselnde, immer wieder aufgefüllte Kontingent der Schwulen vom Dienst bei Mike Mansours Essenseinladungen und Partys, häufig Akolythen irgendeines genialen Musikers, den der Finanzmagnat gerade unter seine Fittiche genommen hatte. Aber Tim! Der alte Dexter Wood würde sich im Grab umdrehen.
Der Kellner brachte die Bestellung. Schmidt fand eine Hundert-Franc-Note in seiner Brieftasche und gab sie ihm mit einer Entschuldigung dafür, daß er ihn ganz verrückt mache.
Sie tranken den Kaffee schweigend, bis Alice den Faden wiederaufnahm. Mein Vater meinte, ich solle zu einem Psychiater gehen, um jemandem zum Reden zu haben, und eine der wenigen Freundinnen, die ich noch in Paris habe, riet es mir ebenfalls. Wir waren zusammen im lycée , und auch sie hatte ein Kind verloren. Leukämie. Sie empfahl mir eine sehr nette Frau, die ihre Praxis am Boulevard Saint Germain hatte. Bei gutem Wetter ist der Weg dorthin ein schöner Spaziergang von hier durch die Tuilerien. Sie verschrieb mir ein Beruhigungsmittel und Schlaftabletten, und daß ich mit ihr sprechen konnte, half wahrscheinlich, aber das Gefühl, daß er mich besudelt hatte, als er mit mir die Dinge tat, die er entweder gerade vorher mit anderen Männern, mit Bruno getan hatte oder gleich wieder tun würde, dieses Gefühl konnte sie mir nicht ausreden, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte, vernünftig zu sein. Ich lag nachts wach in meinem Schlafzimmer, wußte, daß Tim wach oder schlafend in unserem ehemaligen Gästezimmer lag – ich konnte mich nicht überwinden, ihm Sophies Zimmer anzubieten –, und dachte darüber nach. Er und Bruno gingen an Wochenenden immer noch in unser Haus in Chantilly und hätten Tommy gern mitgenommen. Sie meinten es gut, aber ich haßte die Vorstellung, daß Tommy mit ihnen dort wäre. Ich brauchte seine Gegenwart. Außerdem war ich mir zwar gewiß, daß Tim und Bruno vollkommen diskret sein und sich genausogut wie ich oder besser um Tommy kümmern würden, aber ich war beunruhigt wegen der anderen Männer, die, wie ich mir dachte, an den Abenden zu ihnen kamen. Was für eine Sorte von Männern? Zum Glück hatte Tommy an den meisten Wochenenden so viele Hausaufgaben, daß er nicht nach Chantilly mitfahren konnte oder wollte. Wenn er mitfuhr, tat ich es normalerweise auch. Kannst du dir diese Wochenenden vorstellen? Tim, Bruno, Tommy und ich, jeder in einem Zimmer für sich. In der Rue Saint-Honoré hatten Tim und ich auch kein gemeinsames Schlafzimmer, aber wenigstens war Bruno nicht in der Wohnung, und sie schlichen nicht von einem Raum in den anderen. In den Schulferien und zu Weihnachten und Ostern gingen Tommy und ich allein zum Skilaufen oder nach Antibes, um bei meinem Vater zu sein; das hatte ich zur Regel gemacht und erreicht, daß Tim damit einverstanden war. Am Ende kam heraus, daß all die Vorsichtsmaßnahmen umsonst gewesen waren. Man kann einem Dreizehnjährigen nicht viel verheimlichen. Schon bevor sein Vater krank wurde, verstand Tommy, was los war. Wie er es für sich in Worte faßte, weiß ich nicht, wir haben nie darüber gesprochen. Er machte keinen Versuch. Wahrscheinlich hätte ich den Anstoß geben müssen, aber ich wußte nicht wie, und aus verschiedenen Gründen hatte ich die Sitzungen mit der Therapeutin aufgegeben und konnte niemanden um Rat fragen. Mein Vater war anfangs eine große Hilfe gewesen, aber als er nach dem Tod meiner Mutter ganz ermessenkonnte, was er verloren hatte, überwältigte ihn der Kummer. Später war er so ausgefüllt von der neuen Beziehung, die sich anbahnte, daß er sich nicht auf mich und Tommy konzentrieren und mich zur Vernunft bringen konnte. Apropos verstehen: Ich begriff endlich, warum meine Freunde von Anfang an so zurückhaltend reagiert hatten, wenn wir Bruno dauernd zu ihren Partys mitnahmen und ihn jedesmal einluden, wenn wir ein Essen gaben. Paris ist eine kleine Stadt, und sie kannten ihn oder wußten über ihn Bescheid. Er hielt sich vollkommen bedeckt, aber Leute, die nicht so töricht waren wie ich, durchschauten, was in meiner ménage vor sich ging. Wenn meine Eltern in Paris gewohnt hätten, als wir dorthin zogen,
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