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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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nach dem Ausscheiden aus der Firma noch blieb, hätte er so gern gelesen und geschrieben, und er konnte weder das eine noch das andere. Es gab nicht viele Tage, an denen er fähig war, sich zu konzentrieren.
    Also wußte Lew Bescheid, sagte Schmidt nachdenklich.
    Ja. Niemand sonst in der Kanzlei. Tim bat ihn, es keinem zu sagen.
    Den letzten Teil ihrer Geschichte hatte sie mit großer Fassung und, so schien es Schmidt, mit übernatürlicher Klarheit erzählt. Jetzt verlor sie die Selbstbeherrschung. Sie rollte sich auf dem Sofa zusammen und weinte leise, wie ein Kind. Schmidt setzte sich neben sie und strich ihr übers Haar. Er wußte nicht, wie er sie trösten sollte. Endlich hörte sie auf zu weinen und fragte, wo das Badezimmer sei. Als sie wiederkam, sagte sie: Du mußt mir verzeihen, ich habe deine Zahnbürste benutzt. Aber ich habe sie hinterher sorgfältig ausgewaschen. Das findest du nicht schlimm, oder?
    Er sah sie an und fragte sich, ob er jemals eine so schöne Frau gesehen hatte. Ihre Blässe und die vom Weinen verschwollenen Augen gaben ihrem Gesicht einen Zug von Verletzlichkeit und tragischer Vornehmheit. Alice, sagte er, du hältst mich vielleicht für verrückt, aber das bin ich nicht: Ich verliebe mich gerade in dich, ich möchte, daß du das weißt, und was noch kommen wird, ist mir egal, Hauptsache, ich kann mit dir zusammensein. Immer. Großes Ehrenwort, fiel ihm dann noch ein, und er kam sich ziemlich albern vor.
    O Schmidtie, sagte sie und breitete die Arme aus, du willst mich nicht im Ernst immer um dich haben. Du kennst mich kaum! Aber du kannst mich küssen, wenn du dir vorher die Zähne putzt. Als er zurückkam, breitete sie wieder die Arme aus. Ich bin betrunken, erklärte sie ihm, ich habe den ganzen Kognak ausgetrunken, ich schmecke nach Kognak. Stört dich das?
    Er sank neben sie auf das Sofa. Sie küßte fordernd, ihre Zunge strich über seine, ihre Arme umschlangen ihn mit der Kraft von Glyzinien. Ein heiliger Schrecken durchfuhr ihn, so wie der Sage nach ein Neuling auf der Schwelle zum Tempel erschauernd die Einweihung in Mysterien erwartet, die nur die Hohepriesterin im Tempelinneren kennt. Die immer gleichen Gesten, das alte Lied, aber jetzt klang es in seinen Ohren dunkel, drohend. Alice war unwiderstehlich wie eine reife Frucht. Aber wußte diese schöne und gequälte Frau, was sie tat? Mit welchem Recht würde er in sie eindringen, sich eindrängen? Seine eigene Rolle erschien ihm vorbestimmt. Er legte den Arm um sie und führte sie ins Schlafzimmer.

V
    Er war wohl noch in ihr gewesen, als der Schlaf ihn überkommen hatte. Konnte es sein, daß sie die Nacht durchgeschlafen hatten? Er sah auf seinen Wecker. Viertel nach sieben. Morgens oder abends? Ihm würde es nichts ausmachen, aber was würde Alice sagen, wenn es schon Tag war? Würde Madame Laure wohl Alarm schlagen, wenn sie merkte, daß Alice nicht in ihrem eigenen Bett geschlafen hatte? Aber nein, keine Sorge. Der Streifen Himmel, den man durchs Schlafzimmerfenster sah, war taubengrau und rosa. Ein Abendhimmel. Er lag auf dem Rücken, jeder Muskel entspannt, Alices Kopf ruhte an seiner Schulter, ihr Arm quer über seiner Brust. Ihre Beine hielten seine Beine gefangen. Ihre feuchten Schamlippen spürte er an seinem Schenkel. Kein Grund, sie zu wecken. Von Zeit zu Zeit murmelte und seufzte sie, und ihre Umarmung wurde enger. Einmal kicherte sie leise. Lächelnd strich er ihr übers Haar und über den Arm und schlief wieder ein.
    Das war so schön, Lieber, ich fühle mich rundum wohl, danke, flüsterte sie. Hatten ihn die geflüsterten Worte geweckt oder die Feder, mit der sie ihn an der Nase kitzelte? Wo konnte sie die Feder gefunden haben? Natürlich: Manchmal quollen sie aus der Daunendecke, und sie hatte eine herausgezupft.
    Sie schob die Decke weg, setzte sich auf und knipste die Lampe an ihrer Bettseite an, und zum erstenmal – den Augenblick, als er sie mit wilder Hast entkleidet hatte, könne man nicht mitrechnen, meinte er – sah er sie ganz nackt. Schimmernd weiße Haut, die sich glatt und samtig anfühlte, Brüste, so klein, daß ihnen weder das Stillen noch die Zeit geschadet hatten, und vollkommen geformte Beine mit Füßen, die dringend eine Pediküre brauchten. Das Haardreieck: Das war der einzige Teil von ihr, den er erforscht hatte, so glaubte er. Das Aroma haftete noch an seinen Händen und seinem Gesicht. Er setzte sich auch auf, sah sie an, ließ die Hände über ihren Rücken gleiten und kehrte dann

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