Schmidts Einsicht
hätten sie mich warnen können.
Sie hatte ihren Kognak ausgetrunken und fragte, ob sie den Rest aus seinem Glas haben könne.
Alice, fragte Schmidt, warum bist du in dieser ménage à trois geblieben? Warum hast du dich nicht scheiden lassen?
Als sie antwortete, sprach sie so klar und deutlich wie zuvor, aber langsamer. Darüber haben wir ausführlich debattiert, ich und mein Vater und die Therapeutin, als ich noch zu ihr ging, und natürlich Tim und Bruno. Von Anfang an habe ich gedacht, wir könnten nicht zusammenbleiben und sollten es auch nicht versuchen und Tim und ich sollten uns scheiden lassen. Tim war dagegen. Es war immer das gleiche Lied: Eine Trennung könne Tommy nach dem Verlust von Sophie nicht ertragen. Die beiden Kinder hätten sich so nahegestanden. Wir sollten ihm nicht auch noch zumuten, seinen Vater und sein Zuhause zu verlieren. Bruno war der gleichen Meinung. Ich weiß, daß es ihnen damit vollkommen ernst war. Beide liebten das Kind. Daß sie beide nicht vorhatten, sich zu ihrer Beziehung zu bekennen, machte es ihnen leichter, diesenStandpunkt zu vertreten. Privat und heimelig sei es, im verborgenen zu bleiben, sagte Bruno. Er hätte bereitwillig eine Demonstration von hunderttausend Schwulen auf dem schnellsten Weg zurück in die Verborgenheit geführt. Also störte das Festhalten am Status quo keinen ihrer Pläne. Sie hatten nicht die Absicht, zusammenzuleben. Die Psychiaterin sagte mir, das sei ganz falsch, Tommy wisse im Inneren, daß die Ehe zerbrochen sei, auch wenn er den Grund dafür nicht recht beim Namen nennen könne, und dieses Wissen erkläre einige Aspekte seines Verhaltens. Sie meinte, er werde sich schnell mit dem Weggang seines Vaters abfinden. Natürlich hätte ich auf sie hören sollen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie ich mich entschieden hätte, wenn mein Vater sich nicht so stark dafür eingesetzt hätte, daß wir vorläufig zusammenblieben. Es war zu schwer für mich, gegen seinen Rat zu handeln. Danach war es mir allmählich auch lieber, die Fassade unserer Ehe aufrechtzuerhalten.
Sie hielt inne und sagte dann: Das ist wieder eine andere Geschichte, von der ich gar nicht erst anfangen möchte. Tims Geschichte wird noch quälender, aber wenn ich genug Kraft fürs Weitererzählen habe, wirst du die Antworten auf deine Fragen hören. Alles, was ich über Aids wußte, fuhr sie fort, hatte ich aus der Zeitung, und viel war das nicht. Sicher, ich habe bemerkt, daß Tim, der in all unseren gemeinsamen Jahren nie krank gewesen war, nicht einmal eine Grippe oder eine Erkältung gehabt hatte, jetzt anfing, über Halsschmerzen, Schlaflosigkeit, Kopfweh und Durchfall zu klagen, und daß ihn offenbar eine Endlosreihe von Krankheiten plagte. Ich sagte, ich habe diese Krankheiten bemerkt, das klingt kalt, aber ich kann nicht ernsthaft behaupten, daß sie mir Sorgen machten. Die Stelle als Ehefrau hatte ich gekündigt. Ich liebte ihn nicht mehr. Ich war gleichgültig und verärgert. Etwas feindselig.Es ist möglich, daß ich, ahnungslos wie ich war, trotzdem das Muster im Teppich erkannt hätte, wenn ich ihn noch geliebt und mir Sorgen um seine Gesundheit gemacht hätte. Sicher bin ich mir nicht. Zum einen hat mich irregeführt, daß Bruno damals wie heute vollkommen gesund war und ist. Es ist primitiv zu denken: warum der eine und nicht der andere? Irgendwie habe ich wahrscheinlich das Wissen unterdrückt, das ich schon besaß oder sammelte, weil ich nichts mit der Sache zu tun haben und nicht zum Mitleid mit Tim gezwungen sein wollte. Lassen wir es dabei, daß ich lange Zeit nichts wußte und nichts ahnte. Als Tommy und ich dann Anfang 1989 nach Paris zurückkamen – wir waren in den Weihnachtsferien zum Skilaufen in St. Moritz gewesen –, erfuhr ich von der Haushälterin, Madame Laure, die du kennengelernt hast, daß Tim mit einer schweren Lungenentzündung im American Hospital lag. Bruno hatte ihn dort eingeliefert und sich um ihn gekümmert. Ungefähr eine Woche danach wurde Tim entlassen, und Bruno brachte ihn nach Hause. Die Lungenentzündung heilte aus, aber er hatte keine Energie, nahm ab und behauptete, er habe fast ständig Durchfall. Er sah grauenvoll aus, aber trotzdem fuhr er im August mit Bruno nach Bar Harbor. Ich weigerte mich mitzukommen, wie schon im Sommer davor, und Tommy und ich waren fast den ganzen Sommer in Antibes, diesmal mit meinem Vater und der Freundin meiner Mutter, die inzwischen bei ihm eingezogen war. Sie ist eine wunderbare Frau, und wir
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