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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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ihrausgezeichnetes Englisch hatte sie im Gymnasium und später an der Universität gelernt. Sie hatte Russisch als erste Fremdsprache lernen müssen, aber sie und ihre Freunde waren in einen mentalen Streik getreten, gegen alles, was mit den Sowjets zu tun gehabt hatte. Sie hätten die Sprache nie richtig gelernt und das Gelernte absichtlich wieder vergessen; daß das schade sei, wisse sie. Den Rest ihres Werdegangs kannte Schmidt, da er ihre Personalakte gelesen hatte: eine Stelle bei einem Warschauer Verlag, Beteiligung an Protesten der Solidarnos´c´, daraufhin sechs Monate Haft, Aushilfsjobs, dann nach den ersten freien Wahlen im Nachkriegspolen eine Stelle als Redakteurin bei der neu gegründeten polnischen Tageszeitung, die zur wichtigsten in Polen werden sollte. Von dort hatte Mike Mansour sie in sein Center geholt. Damit endete die Akte, aber sie erzählte ihm, daß sie mit einem Mann verheiratet sei, den sie seit dem Studium kenne, der Mathematiklehrer an einem Gymnasium in Warschau war und nebenher Kreuzworträtsel schrieb. Sie hätten keine Kinder. Ein netter Mann, der schon lange nicht mehr mit ihr schlafe. Kein Sex! Nicht weil er eine andere hätte, sondern weil er das Interesse verloren habe. Können Sie sich so etwas vorstellen?
    Schmidt antwortete der Wahrheit entsprechend, das könne er nicht, nicht wenn jemand mit einer so attraktiven Frau lebe.
    Sie dankte ihm, und sie stießen darauf an. Er fand es nicht mehr verwunderlich, statt Wein oder Bier eisgekühlten Wodka aus einer Karaffe zu trinken. In der Ukraine hatte man vor einem Monat zum Abendessen vorwiegend Wodka konsumiert, und am vorigen Abend in Warschau auch. Aber dies war ein Mittagessen, und nachdem sie die erste Karaffe geleert hatten, rief Pani Danuta den Kellner und bestellte eine zweite. Unaufgefordert erzählte sie weiter, sie und ihr Mann hätten überlegt, ob sie sich scheiden lassen sollten, aber die Realitäten der Wohnungsfrage hätten sie daran gehindert: Sie hätten ein Appartement, das ihnen gefalle, und es sei logisch, daß sie es nach der Scheidung behalte, aber wie solle er eine Unterkunft finden, die er bezahlen könne und die halbwegs in der Nähe der Schule liege? Eine solche Wohnung gebe es nicht. Überhaupt sei das Geld ein Problem. Sie verdiene bei der Stiftung mehr als er. Das mache das Leben für beide angenehmer. Den Vorteil wolle sie ihm nicht wegnehmen – schließlich seien sie alte Freunde. Ob Schmidt das nicht auch meine? Er sagte: Doch, ja, und hob sein Glas. Sie stießen miteinander an. Und was den Sex angehe, den verschaffe sie sich.
    Sie schlug vor, nach dem Essen den Łazienki-Park mit dem Schloß zu besichtigen, das während des Aufstands kaum Schaden genommen hatte. Es sei hauptsächlich im achtzehnten Jahrhundert gebaut worden und sehr schön. Benommen vom Alkohol und dem ungewöhnlich schwülwarmen Wetter willigte Schmidt ein. Sie fuhren mit einem Taxi zum Park und begannen dann ihren Spaziergang, der ihm sehr bald endlos vorkam, da Pani Danuta ununterbrochen gelehrte Kommentare zu den verschiedenen königlichen Bauten abgab und sich dabei stark auf seinen Arm stützte. Schmidt fragte sich, ob sie das aus Gewohnheit oder aus Müdigkeit tat oder weil sie ihn die Schwere und Form ihrer Brust spüren lassen wollte.
    Als sie wieder auf der Straße ankamen, war es fast vier Uhr. Sie fand sofort ein Taxi. Als er vorschlug, sie vor ihrer Wohnung abzusetzen, sagte sie, das sei ein zu großer Umweg. Sie sollten lieber zu seinem angenehm klimatisierten Hotel fahren und noch etwas an der Bar trinken. Später würde sie dann von dort aus die Straßenbahn nehmen, die Verbindung sei gut, sie müsse nur einmal umsteigen, und an der Ecke zu ihrer Straße sei eine Haltestelle. Wieder willigte Schmidt ein. Kaum waren sie im Hotel, entschuldigte sie sich und suchte die Damentoilette auf. Er ging auch zur Toilette und wartete dann auf einer Sitzbank in der Bar, die tatsächlich eine Oase der Ruhe war, die Luft frisch und kühl. Als sie wiederkam, fingen sie an, Wodka in noch größeren Mengen als im Restaurant zu trinken. Sie hatte keine Karaffe, sondern eine Literflasche bestellt und dann, nachdem sie seine Erlaubnis erbeten und erhalten hatte, den Kellner beauftragt, Brote mit Räucherlachs und hartgekochten Eiern zu bringen und etwas, das sie Preßsack nannte – Fleischstückchen in Aspik. Er staunte über ihren Appetit – sie aß wie ein Mann, wie ein Schwerarbeiter – und über ihren Stoffwechsel. Irgendwie

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