Schmidts Einsicht
jämmerlicher Euphemismus für das, worauf er wirklich aus war. Eine Pause zwecks Läuterung war in Ordnung. Aber wie lange? Vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden? Sollte er sie am Sonntag morgen anrufen, die Terminänderung erklären und fragen, ob sie an diesem Tag zusammen zu Mittag oder Abend essen könnten? Das war die Vierundzwanzig-Stunden-Lösung. Die tugendhaftere verlangte, den Anruf bis Montag morgen aufzuschieben. Was tun? Er löste das Problem, indem er eine Nachricht für Alice hinterließ: Er komme spät am selben Abend an und werde ihr erklären, warum seine Pläne sich geändert hätten. Sie möge ihn bitte in seinem Hotel anrufen.
In Paris wartete keine Nachricht auf ihn. Diesmal hatte er daran gedacht, die Anweisungen zum Abhören seines Anrufbeantworters in Bridgehampton in sein Notizbuch zu schreiben. Auch dort: keine Nachrichten. Er packte seinen Koffer aus und wollte sich schon unter die Dusche stellen, aber dann überwältigte ihn das Bedürfnis, Alice anzurufen. Sie kam nicht ans Telefon. Als er am nächsten Morgen kurz nach neun anrief, war sie wieder nicht zu Hause und auch nicht, als er es mittags versuchte. Diesmal hinterließ er wieder eine Nachricht. Er sei früher als erwartet in Paris angekommen und in seinem Hotel zu erreichen. Gleich als er den Hörer auflegte, wurde ihm klar, daß er damit etwas Dummes gesagt hatte. Also rief er noch einmal an und sagte, er werde einen langen Spaziergang machen, aber im Hotel anrufen und nach Nachrichten fragen. Ob sie zusammen zu Abend essen könnten? Wenn nicht, werde er sie morgen sehen. Schon fast Zeit für ein Mittagessen, aber er war zu nervös und allzu ungeduldig, um sich zu einem ausgiebigen Mahl ins Hotelrestaurant zu setzen oder etwas an der Bar zu bestellen. Während seines letzten Aufenthalts in Paris hatte sein verstauchter Knöchel lange Spaziergänge verhindert. Jetzt hinderte ihn nichts. Er ging über den Pont de la Concorde und marschierte endlos lange, erst den ganzen Weg zur Place du Panthéon und dann in umgekehrter Richtung zum Montmartre. Dort nahm er die Drahtseilbahn zumwinzigen Square Nadar, stieg aus, betrachtete die massige weiße Basilika Sacré Cœur zur Rechten und setzte sich auf eine Bank. Der Blick über die Stadt war unübertrefflich, aber seine alte Nemesis hatte ihn wieder eingeholt: Blasen an den Füßen, wo der Schuh an der Fersensehne scheuert. Sie taten weh, und wahrscheinlich bluteten sie auch. Er überlegte, ob er das Hotel bitten sollte, ein Funktaxi zu schicken, das ihn aufsammelte, aber da hielt schon eins am Bürgersteig. Ein asiatisches, mit Stadtführern und Kameras beladenes Paar stieg aus. Er sprang hin zur noch offenen Tür, stieg ein und nannte dem Fahrer die Adresse seines Hotels.
Als er ankam, hatte Alice immer noch keine Nachricht hinterlassen, aber sie rief zur Abendessenszeit an und sagte, sie sei gerade von einem Wochenende bei Freunden auf dem Land zurückgekehrt. Wenn er frei sei und noch nicht gegessen habe, könnten sie zusammen zum Dinner gehen.
In meinem Hotel, fragte er.
Ja, das Essen ist so gut, und die Erinnerungen sind es auch.
Nach dem Essen am Sonntag abend kam es nicht, wie er im stillen gehofft hatte, zu einer Liebesnacht. Heute nacht nicht, erklärte sie ihm, bald nachdem sie sich zu Tisch gesetzt hatten, wir haben morgen, stimmt’s, und vielleicht noch ein paar Tage mehr. Sie hatte ihm gesagt, sie sei 1945 geboren. Also war sie fünfzig. Wäre sie ein paar Jahre jünger, hätte er vielleicht gedacht, ihre Periode sei das Problem. Schade, aber er war dankbar, daß sie von vornherein klargemacht hatte, wie der Abend enden würde. Nun würde sich die Zeit der Läuterung um vierundzwanzig Stunden verlängern; und er brauchte sich beim Essen keine Gedanken darüber zu machen, daß er sie anschließend wie eine Festung erstürmen und einnehmen müsse. Siewar, fand er, genauso wunderbar wie fast auf den Tag genau vor einem Monat, als er sie in ihrem Appartement in der Rue St. Honoré besucht hatte. Ihre physische Schönheit war immer fraglos gewesen, von dem Tag an, als er auf ihrer Hochzeitsfeier mit ihr getanzt hatte, aber jetzt bemerkte er so vieles, das damals seiner Wahrnehmung entgangen war: die bezaubernde Anmut ihrer Gesten, ihre Freude am Lachen, die Schlichtheit und Leichtigkeit, mit der sie den Maître d’hôtel, einen sturen Funktionär, sofort für sich gewann, als sie ihn nach dem Rezept für die kalte Tomatensuppe fragte, die sie gerade aßen. Er
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