Schmidts Einsicht
bewunderte ihre Art, sich zu kleiden. Die langen Hosen, die sie trug, hatte sie auch beim Mittagessen an ihrem ersten gemeinsamen Sonntag angehabt. Das Top war ebenfalls ein alter Freund, sie hatte es getragen, als er zum Dinner in ihre Wohnung gekommen war. Aber die weiße, sommerliche Jacke kannte er noch nicht, sie paßte perfekt zu dem außergewöhnlich warmen Tag, der jetzt bald endete. Sie gab wenig für ihre Kleidung aus, das schien ihm klar zu sein, und er fragte sich, ob sie weniger Geld hatte, als man von Tim Verplancks Witwe annehmen würde. Dann würde er ihr mit Vergnügen etwas Wind in die Segel leiten. Aber genauso wahrscheinlich war, daß sie wußte, wie gut sie Kleidungsstücke kombinieren, unbeschreiblichen Schick mit geringen Mitteln erreichen konnte.
Die größte Entdeckung des Abends waren jedoch Alices Hände: fast so groß wie seine, aber feingliedrig mit schmalen langen Fingern, die Hände eines Pantomimen, die Schmidt, immer wenn sie gestikulierte, und das tat sie oft beim Erzählen, an Jean-Louis Barrault in Kinder des Olymp erinnerten. Er stellte sich vor, wie diese Finger zum Entzücken eines Kindes Schattenspiele aufführten, und hörte sich selbst an einem Punkt der Unterhaltung plötzlich fragen, ob ihr Sohn Tommy eine feste Freundinhabe. Sie wirkte überrascht und antwortete, daß er auf einem gewissen Abstand zu ihr beharre, deshalb könne sie es nicht genau sagen, aber sie habe keinen Anhaltspunkt dafür, daß er schwul sei. Entsetzt, daß er ihr das Gefühl vermittelt hatte, sie müsse diese Antwort geben, erklärte er ihr, er habe sich nur ausgemalt, was für eine gute Mutter sie gewesen sein müsse und wie gut sie mit ihren Enkelkindern spielen werde. Sofort wurde ihm bewußt, daß dies wieder eine taktlose Bemerkung war, aber sie hatte keine Mühe damit, sondern ließ ihn irgendwie merken, daß er sie nicht gekränkt hatte, und sagte, eine gute Mutter sei sie wohl wirklich gewesen, bis zu der Katastrophe mit Sophie, an der sie sich nicht schuldig fühlen könne, und bis ihre Beziehung zu Tommy aus dem Gleis geraten sei, was sie sich allerdings zum Vorwurf mache. Enkelkinder! Ein ferner Traum vom Glück. Ihr Vater habe so gut mit Tommy und der armen kleinen Sophie umgehen können.
Und was ist mit deiner Charlotte, fragte sie dann.
Sie ist erst dreißig, antwortete er, aber geheiratet hat sie vor drei Jahren, und sie und ihr Mann waren davor schon zwei Jahre »zusammen«, wie sie es nennen. Also wird es allmählich Zeit. Zwischendurch war die Ehe kaputt, aber sie haben sie wieder geflickt. Vielleicht denken sie, das sollten sie feiern, indem sie ein Kind machen. Ich wünschte, ich wüßte es. Meine Beziehung zu Charlotte ist nicht einfach.
Als er das sagte, ging ihm durch den Kopf, daß Charlotte womöglich einverstanden wäre mit Alice in seinem Leben und daß diese Frau seiner Tochter und ihm helfen könne, besser miteinander auszukommen, so wie Charlottes Mutter Mary, als sie noch lebte. Vielleicht hätten er und Charlottes unangenehmer Ehemann es dann auch leichter miteinander. Die Liste der möglichen Verbesserungen erschien ihm endlos. Es gab nichts, was Alice nicht zum Guten wenden konnte.
Sie hatte am Montag mittag zu tun, ein Arbeitsessen, von denen es so viele gab. Wenn Mary und ihre Kollegen ein repräsentatives Beispiel waren, verbrachten New Yorker Verlagsleute ihr Leben mit Mittagessen. Offenbar waren französische Lektoren nicht anders. Aber er aß mit Alice zu Abend und blieb die Nacht bei in ihrer Wohnung. Am nächsten Morgen rief er Mike Mansour an und erklärte ihm, er würde gern noch ein paar Tage länger in Paris bleiben, zum Beispiel bis Sonntag, und fragte, ob der Bericht über Bukarest und Warschau bis zur ersten Direktoriumssitzung im Juni aufgeschoben werden könne. Der Finanzmagnat lachte kehlig und sagte, Pas de problème , vorausgesetzt, er habe vor, diese Tage mit der liebenswürdigen Dame zu verbringen. Schmidt bestätigte, daß es sich tatsächlich so verhalte, worauf er die Einladung, nein, den Befehl erhielt, weiter in Mikes Suite zu wohnen.
Die Frage ist, fuhr Mike fort, die Frage ist, hat sie dich jetzt so gern wie du sie?
Ich weiß es nicht mit Sicherheit, erwiderte Schmidt, aber ich hoffe es sehr.
Allmählich meinte er, es spreche einiges dafür. Ihre Hingabe in den folgenden Nächten war dermaßen schrankenlos, daß er es kaum glauben konnte und sich von ihrem Hunger ganz ausgehöhlt fühlte, einem Hunger, der wie durch ein Wunder
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