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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Witzel
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erst die Herkunft jedes Sesamkorns klären müssen. Wie in finsteren Zeiten der Urlauberversorgung bekommt man ohne Reservierung keinen Tisch im »Deutschen Haus«. Am liebsten wäre ich wieder abgereist, wenn es nicht einer Kapitulation gleichkäme – und die Falschen träfe. Uns.
    »Du hast Urlaub«, sagt meine Frau, und dass ich mich entspannen soll. Als könnte ich was dafür, dass sie hier sind! Können die nicht an ihre eigene Küste fahren, wo die Strände aus Schlamm sind und die Kurorte aussehen wie Recklinghausen? Heißt das Meer hier etwa Westsee?!
    Erst fiel der Darß, dann haben wir Rügen und schweren Herzens Hiddensee aufgegeben, um vor etwa zehn Jahren auf den letzten Streifen Sand vor Polen auszuweichen. Es war die Zeit, als Tourismusmanager mit 52 Prozent erstmals mehr Westler als Ostler an der Mecklenburger Küste zählten und die Bild-Zeitung nach drei oder vier Beschwerden bei der Kurverwaltung Warnemünde den »Nackt-Krieg« ausrief. Ein paar Wochen schien der Freikörperkultur-Kampf das Land unversöhnlicher zu spalten, als es die Mauer je vermochte. »Ostdeutsche«, so der Berliner Tagesspiegel damals pauschal, »wollen sich das Nacktbaden nicht verbieten lassen.« Prüde Eroberer, nackte Ureinwohner – was sich westdeutsche Fachleute für DDR-Kultur eben so ausdenken, die sich auch bei der Ursachenforschung für ihre selbst erfundenen Massenphänomene selten lumpen lassen: Von der kleinen Ersatz-Freiheit, einem Akt der Opposition gewissermaßen bis zum Stoffmangel in der volkseigenen Bikini-Fabrik konnte man jeden Unsinn lesen. So ein nackiger Broiler, das vor allem blieb bei mir hängen, muss sehr verstörend auf sie wirken. Und deshalb ziehe ich neuerdings selbst bei jeder Gelegenheit blank und ermuntere auch meine Familie nach Kräften dazu:
    Wenn sie durch die Dünen joggen – Hose runter und sie rennen sofort weg. Wenn ihre Golden Retriever zwischen unsere Tröpfelburgen scheißen – setzt Euch ungeniert daneben! Wenn sie die unberührte Natur loben und gleichzeitig jede Wiese dahinter bebauen. Wenn sie so tun, als hätte es mit ihrem Solidaritätszuschlag zu tun, dass ihnen inzwischen alle Villen der Strandpromenade, ja ganze Ostseebäder gehören. Wenn sie sich selbstgefällig entrüsten, dass ein Drittel ihrer Landsleute noch nie im Osten war und die das mit dem Service hier sicher auch noch lernen … Zeigt ihnen, was die einheimischen Drei-Euro-Kellner über sie denken und welches Drittel uns lieber ist! Gegen Unverschämtheit hilft nur Schamlosigkeit.
    Na bitte: Familie Krokodil hat sogar ein Fernglas dabei, diese Spanner – wie ich durch meins genau erkenne. Erst ziehen sie einem das letzte Hemd aus, dann sollen wir es wieder anziehen. Ist doch wahr! Da braucht sich meine Frau gar nicht gelangweilt auf den Bauch zu drehen. Glaubt sie etwa, mir macht es Spaß, sie auf diese Weise einzuschüchtern? Keine Kunst, schon klar: Jeder weiß, dass es die Natur mit unseren malerischen Küsten und Körpern besser gemeint hat, so wie die Geschichte den Westen bevorzugte. Natürlich würde auch ich gern Rücksicht auf unsere pubertierenden Jungs nehmen, die sich zurzeit sogar beim Umziehen lieber unter Handtüchern verrenken. Aber wenn es Notwehr ist, nackte Verzweiflung? Wenn sie sich nicht mal mehr von Neonazis oder der einheimischen Küche abschrecken lassen? Aber dafür Nackten in die Tasche greifen!
    Die Bußgelder belasten zwar unsere Urlaubskasse. Doch wenn man einmal begriffen hat, dass dahinter auch bloß die Interessen der westdeutschen Badehosenindustrie stecken, tragen sich selbst hängende Hintern wieder mit Stolz und wie von allein. Nicht zuletzt geht es auch um Zimmerpreise, Parkgebühren und die Tasse Kaffee für vier Euro. Darum, dass sich Adam aus Leipzig und Eva aus Magdeburg ihr Paradies nicht mehr leisten können, seit jeder kleine Hafen am Achterwasser eine Marina sein will. Sogar die Möwen sehen so fett aus, als stammten sie vom Timmendorfer Strand, während die hiesigen – jetzt rege ich mich schon wieder auf – in Polen verhungern. Gar nicht zu reden von unserem alten Eisverkäufer Knut.
    Vor einem Jahr noch hat er uns verraten, wie er sie erkennt: »Wir lecken – sie lutschen.« Dabei nickte er wohlwollend, weil wir sein Eis besonders vorsichtig mit der Zunge umkreisten. Sie dagegen würden ihre Lippen gierig über die Kugel stülpen, als bekämen sie nie genug. Knut wusste, wovon er sprach: Er war Genossenschaftsfischer, bevor ihre Kutter alles leer

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