Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
uns kaufen ließen?
Für jedes klebrige Glas Nutella, jede Zigarette, die der ostdeutsche Hartz-IV-Empfänger raucht, ja selbst seine Miete vom Amt, die in aller Regel direkt an seinen westdeutschen Hausbesitzer überwiesen wird, sollen wir uns bedanken – nicht Ferrero, Philip Morris oder der neue Hausbesitzer?
Für die »größte Demontage einer Industrienation in Friedenszeiten« wie der Münchner Volkswirt Hans-Werner Sinn die wirtschaftliche Abwicklung des Ostens Anfang der neunziger Jahre nannte? Oder dafür, wie es der Ifo-Chef heute formuliert: Dass die Angleichung der Lebensverhältnisse an Westniveau bereits vor 14 Jahren de facto zum Erliegen gekommen sei und deshalb in Hoyerswerda niedrigere Hartz-IV-Sätze angemessen wären?
Für die zig Milliarden, die bei der Sanierung von ostdeutschen Häusern und ganzen Städten »transferiert« wurden, aber die in Form von Sonder- oder Denkmalschutzabschreibungen letztlich auch nur westdeutsches Vermögen vermehrt haben, weil kaum eine dieser Immobilien Einheimischen gehört?
Sollen wir angesichts der vielen neuen, aber seit Jahren leer stehenden Bürohäuser wirklich vor Dankbarkeit weinen oder eher wegen der unglaublichen Steuerverschwendung zugunsten gieriger Anleger, deren Sonder-AfA bis 50 Prozent auch niemand von dieser mysteriösen Billion abzieht. Und für die im Übrigen auch die drei oder vier letzten ostdeutschen Steuerzahler aufkommen, sofern sie nicht ohnehin im Westen Frondienste leisten oder vor lauter Dankbarkeit für ihre Leih- oder Billiglohnjobs gar keine Steuern zahlen, weil der Rest gerade so reicht, um die Miete des – da ist er schon wieder – westdeutschen Hausbesitzers zu zahlen und das Nötigste in westdeutschen Supermarktketten einzukaufen?
Oder sind die sinnlosen Flughäfen, die überdimensionierten Kläranlagen und die vielen Spaßbäder gemeint, die oft für das »versickerte Geld« beim Aufbau Ost herhalten müssen? Sollen wir uns also bei den Beratern, Beamten und Aufbauhelfern bedanken, die all diese Kläranlagen zu groß genehmigt und zu teuer gebaut haben, oder sollen wir vorher noch mal nachfragen, woher die Planer und Baufirmen, die Notare und Anwälte, eigentlich jeder, der vor Ort an diesem Unsinn partizipiert hat, in Wirklichkeit stammen?
Sollen wir uns dafür bedanken, dass eine FDJlerin jetzt Bundeskanzlerin spielen darf? Dass ostdeutsche Soldaten seit kurzem den gleichen Sold bekommen wie ihre westdeutschen Kameraden? Dass aber sonst im Osten auch nach 20 Jahren in fast allen Branchen länger gearbeitet und weniger verdient wird? Dass Frauen im gesamtdeutschen Durchschnitt fast ein Viertel weniger verdienen als Männer, aber – schaut man sich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes mal genauer an – westdeutsche Frauen immer noch mehr bekommen als ostdeutsche Männer? Im Durchschnitt, wohlgemerkt, also obwohl es im Osten doppelt so viele Doppelverdiener-Paare gibt wie im Westen, was die durchschnittlichen Einkünfte gegenüber den vielen Hausfrauen West eigentlich heben sollte.
Es tut mir leid, aber umso länger ich suche, desto schwerer fällt die erwartete Dankbarkeit. Das angebliche Fass ohne Boden läuft immer wieder im Westen über. Ist es das? Sollen wir uns dafür bedanken?
Für den Etikettenschwindel mit dem Solidaritätszuschlag, der nie etwas mit Aufbau Ost oder gar irgend einem Solidarpakt zu tun hatte, sondern von Anfang an – wie alle Steuereinnahmen – dem allgemeinen Finanzbedarf des Bundes diente, unter anderem zur Finanzierung des Golfkrieges?
Für die rechtsextremen Anführer, die in Scharen rüberkamen, oder eher für die vielen Rechtsextremismus-Experten, die ihnen folgten, diese seltsame Symbiose aus arbeitslosen Soziologen und dümmlichen West-Faschisten?
Für die bittere Erkenntnis, dass im Westen auch nur überall geduckmäusert wird, wenn auch mit erhobener Nase? Dafür, dass in den ersten Jahren noch alles verteufelt wurde, was hierzulande Alltag war, aber nun auf Teufel komm raus nachgeahmt wird – Kinderkrippen für alle etwa oder brutale Knüppeleinsätze gegen demonstrierende Schüler in Stuttgart?
Habe ich etwas vergessen? Die vielen guten Tipps vielleicht, wie man richtig arbeitet, oder die Belehrungen, wie man sich in der DDR richtig verhalten hätte? Die Politiker, Wissenschaftler und Journalisten, die einem seit Jahren und in diesen Tagen wieder ohne jede Ahnung, aber dafür umso selbstbewusster erklären, wie es damals wirklich war, wie »unrecht« oder
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