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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Witzel
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fischten, und eine zeitlang unser Vermieter, bis sein ausgebauter Hühnerstall einem Hotel weichen musste. Der neue Besitzer aus Kiel duldete den Eisstand noch ein paar Jahre. Diesen Sommer war nun auch Knut nicht mehr da. Billige Studenten aus Litauen verkaufen nun abgepacktes Tankstellen-Eis am Strand. Und für wen? Genau: Für den gierigen Lutscher aus Kiel.
    Da passiert es: Die Krokodile stutzen und marschieren sofort auf uns zu. Während ich noch routiniert meinen Nackt-Kriegstanz aufführe, denke ich darüber nach, ob sich die Ferien nicht so weit entzerren ließen, dass solche Begegnungen ganz wegfallen. Familien aus den alten Ländern könnten doch zum Beispiel im Herbst an die Ostsee fahren und wir aus den annektierten dafür im August auf ihre Skigebiete verzichten. Voller Freude über diese Lösung nehme ich den Kroko-Mann erst wieder wahr, als er seinen Krempel fallen lässt und sich vor mir aufbaut wie vor einer Schlägerei. Dann öffnet er plötzlich seinen Krokodil-Gürtel und strahlt. »Na bloß guat,« sagt er und winkt seine Familie näher. »Hät scho denkt, hier schdracked nur noch brüde Schwobe rum«. Und was noch erschreckender ist: »Näggich« sehen sie uns beinahe ähnlich. Schnell ziehe ich meine Hose wieder an, und nächstes Jahr probieren wir es einfach mal an der Nordsee. Im Grunde dürfte dort ja niemand mehr sein.

»Heute herrscht angeblich Freiheit,
aber die Leute sind unfrei wie nie zuvor.
Damals waren wir versklavt,
und dennoch tat jeder, was er wollte.
Jedenfalls die, die ich kannte.«
    Andrzej Stasiuk
     

Danke? Nein, danke!
     
    Gern und immer wieder wird von Ostdeutschen etwas mehr Dankbarkeit verlangt. Nach genau 20 Jahren ist es vielleicht auch mal Zeit dafür. Nur – wofür eigentlich? Eine Festrede.
     
    Undankbarkeit ist ein undankbarer Vorwurf. Was soll man dazu auch sagen? Wer Dankbarkeit verlangt, ist häufig ein knauseriger Geizhals. Er gibt nicht wirklich gern. Möchte wenigstens ein wenig Dankbarkeit dafür. Als Gegenleistung. Es ist also eher ein Geschäft. Aber wir wollen heute, nach genau 20 Jahren Undankbarkeit, nicht selber knauserig sein und deshalb möchte ich die Gelegenheit gern zum Anlass nehmen, um es – auch im Namen meiner Landsleute – endlich mal aus vollem Herzen zu sagen:
     
    Danke.
    Wir hätten das schon viel früher mal tun sollen. Man vergibt sich nichts dabei und es ist gar nicht so schwer, wenn man nur wüsste, wofür?
    Etwa für den entwürdigenden »Beitritt« zu einem notdürftigen Grundgesetz, das für diesen Fall eigentlich eine neue, gemeinsame Verfassung vorsah?
    Dafür, dass Ostdeutschland den gemeinsam begonnenen Krieg allein ausbaden durfte? Oder etwa dafür, dass der Westen diesen Zustand am Ende mit Milliardenkrediten noch sinnlos lange und künstlich am Leben hielt, bevor er sich, was übrig war, einverleibte?
    Gut, ich weiß schon: Immer wenn Westdeutsche etwas aufregt, geht es am Ende um ihr Geld, sind also die so genannten Transferleistungen gemeint, die gern auf angeblich mehr als eine Billion Euro hochgerechnet werden und doch zum größten Teil sofort wieder zurückgeflossen sind.
    Müssen wir uns wirklich für die Milliarden-Subventionen bedanken, die westdeutsche Firmen zu den Treuhandschnäppchen dazubekamen, aber vor Ort fast nie Früchte trugen – und wenn doch, von dieser Summe nie abgezogen werden? Für die schönen neuen Autobahnen, mit denen die Autobahnbaufirma aus Stuttgart neben dem Osten vor allem sich selbst sanierte, genauso wie die reich beschenkten Stromriesen am Rhein?
    Dafür, dass »Bundesregierung und Treuhandanstalt unerlässliche Aufsichtspflichten verletzt und parlamentarische Kontrollrechte in einem Ausmaß außer Kraft gesetzt haben, wie es keine demokratisch legitimierte Regierung in Deutschland nach 1846 gewagt hat«, wie es die SPD als Fazit nach dem 2. Treuhanduntersuchungsausschuss 1994 formulierte?
    Für den unglaublichen Aufschwung durch die plötzliche Nachfrage nach gebrauchten oder neuen Autos, nach Videorekordern oder jede einzelne Zahnbürste, die den Zusammenbruch der westdeutschen Überproduktion noch ein paar Jahre hinauszögerte? Für den eiskalt kalkulierten Umtauschkurs der Ost-Mark, der vor allem dazu diente, dass ein Absatzmarkt aus 17 Millionen neuen Verbrauchern von heute auf morgen selbst nichts mehr herstellen sollte? Steht auf dem Kassenzettel nicht üblicherweise: Wir bedanken uns für ihren Einkauf? Und jetzt sollen wir uns auch noch dafür bedanken, dass wir

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