Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
die Schulklasse kann man sich im Osten selbst zusammenstellen! Ohnehin reden sie lieber von der »Peergroup«, wünschen sich mehr »Corporate Identity« und wollen – offenbar aufgewiegelt vom plötzlichen Mut ihrer Landsleute in Stuttgart und Gorleben – die Benotung von Hausaufgaben wieder abschaffen. Gegen den angeblich zu harten Ost-Sportlehrer laufen ebenfalls Putsch-Pläne. Im Zweifel geht ein Rechtsanwalt aber auch ganz individuell gegen zu schlechte Noten vor, damit die kleinen Seelen nach einer »3« keinen Schaden nehmen.
Eine Mutter schlägt vor, sich doch auch mal nachmittags zu treffen, damit die jungen Erwachsenen dabei sein können und nicht immer nur über sie gesprochen werde. Das übliche demokratische Blendwerk. Als ginge es nicht vielmehr darum, den Vollzeit-Müttern die Langeweile bis zum Abendbrot zu vertreiben. Ihre Männer blockieren irgendeine Funktion in Justiz oder Verwaltung, für die ostdeutsche Bewerber auch nach 20 Jahren noch nicht geeignet sind. Die Ehefrauen suchen seitdem verzweifelt sozialen Anschluss in der fremden Stadt. Im Grunde ist so ein Elternabend neben der Putzfrau ihr einziger Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt wie der Opernball (siehe Seite 70) oder die Weihnachtsfeier der Lions-Frauen, nur dass sie da wenigstens unter sich bleiben.
»Spontan« – sie nennen das wirklich so – erklärt sich eine andere Mutter bereit, Dinkelkekse zu backen, »natürlich glutenfrei«, als wäre das nicht ohnehin selbstverständlich. Einem engagierten Vater fällt daraufhin ein, dass man doch bitte auch zur Klassenfahrt an laktosefreie Milch denken möge. Er selbst könne übrigens ein wenig zaubern und sich vorstellen …
Dies wäre der Moment für ein ehrliches »Schnauze, Wessi« – aber das würde die Sache auch nicht verkürzen. Der »5b-Spielenachmittag mit Eltern«, so das Protokoll, klingt schon in der Brainstorming-Phase wie die Höchststrafe für Fünftklässler und geistig normal entwickelte Erwachsene. Zu Hause läuft indessen die Miete weiter und mit Frauentausch meine Lieblingsserie über westdeutsche Assi-Familien. Da meldet sich ausnahmsweise auch mal eine Leipziger Mutter zu Wort und gibt leise zu bedenken, dass vielleicht ein paar Eltern arbeiten müssten, sie selbst zum Beispiel bis 20 Uhr in der Kaufhalle. Was für ein läppischer Einwand! Er wird nicht einmal ignoriert.
Stattdessen zählen die anderen nun im Detail auf, an welchen Tagen ihre Kinder nicht können – wegen Yoga, Spanisch-Konversation und Cello bei Professor Soundso. Bis ich begreife, dass es gar nicht mehr darum geht, sich auf einen Nachmittag zu einigen, seufze ich wohl einmal zu laut. »Und«, fragt meine Nachbarin, die Cello-Mama, prompt: »Was spielt ihrer so?« Dabei lächelt sie, jedenfalls lächelt ihr Mund. Und alle Mitbewerber um das meist-verplante Kind der Klasse schauen ebenfalls angespannt zu mir.
Erst denke ich an Lego, doch dann fällt mir noch etwas Besseres ein: »Meiner spielt Gameboy«, sage ich, »Meisterklasse bei Professor Nintendo.« Alle schweigen ein paar Sekunden peinlich berührt, aber danach können wir endlich die neuen Elternsprecher wählen. Wie jedes Mal halten sich die einen auch dabei nach Kräften zurück, weil jedes Amt, jede Wortmeldung, jeder unüberlegte Schritt aus der Reihe nach ihrer DiktaturErfahrung immer noch einen fiesen Beigeschmack hat. Die anderen lauschen verzückt der eigenen Bewerbung, liefern sich Kampfabstimmungen und am Ende verliert die Cello-Mama knapp gegen einen Landsmann aus Niedersachsen. Sie beißt die Zähne zusammen und gratuliert dem neuen Elternsprecher lauter als nötig. »War nur der Väter-Bonus«, tröste ich sie, »nächstes Schuljahr, neues Glück!« Und ich fürchte, sie findet mich nun ganz nett.
»Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe.«
Losung vor einer Poliklinik in Zwickau, 1983
Der Westen macht krank
Allergien, Depressionen, Demenz – seit 20 Jahren breiten sich in Ost-Deutschland seltsame Krankheiten aus. Eine Anamnese.
Noch schlapp vom letzten Sprint aufs Klo frage ich mich, wo dieses Virus wieder herkommt. Der Wirkung nach könnte es aus Darmstadt sein, wo ich letzte Woche tatsächlich war. Oder habe ich es mir beim Elternabend (siehe Seite 76) eingefangen, wo eine gewisse Diskussions-Diarrhö grassierte? War es womöglich mein zweitbester Freund Ludger (siehe Seite 35), der einen dreimal täglich mit Handschlag begrüßt, um seine wahre Herkunft
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