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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Witzel
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zu verschleiern? Und plötzlich sehen meine fiebernden Augen die Dinge klar wie nie: Es ist der Westen, der einen krank macht – eine einzige Seuche.
    Bis 1989 kannte ich zum Beispiel nur einen einzigen Menschen mit Heuschnupfen. Er war vom Sport befreit, benutzte riesige Stofftaschentücher, und obwohl er die stets mit dramatischer Geste aus der Hosentasche wedelte, steckte er keinen von uns an. Es blieb eine rätselhafte Krankheit, immer nah am Simulantentum, aber als ihn das ewige Geniese dann wirklich vor der Volksarmee bewahrte, genoss er auch jede Menge Neid und Respekt.
    Heute muss keiner mehr zur Armee, dafür klagt jeder dritte Deutsche über Atemwegsallergien. Mit denen, die empfindlich auf Nahrungsmittel, Medikamente oder Insektengift reagieren, unter Kontaktallergien und Neurodermitis leiden, kommt die Statistik locker auf 50 Prozent der Bevölkerung. Es gibt inzwischen sogar Tage, da höre ich mich öfter »Gesundheit« sagen als »Schnauze, Wessi«. Und das kann, bei aller Freude über 20 Jahre Deutsche Einheit, auch nicht gesund sein.
    Niemand in der Planwirtschaft kannte Burn-out-Syndrome, außer vielleicht die Planwirtschaft selbst. Mal einen Tripper, okay. Aber AIDS, ADS oder ADHS? Wo kommen auf einmal diese ganzen rätselhaften Defizite an Abwehrkraft, Aufmerksamkeit und der Gelassenheit her, mal eine ruhige Kugel oder hin und wieder eine Nummer in der Mittagspause zu schieben? Gar nicht zu reden von Rückenschmerzen, die mir persönlich vor 20 Jahren auch noch völlig fremd waren. Inzwischen sitze ich auf einem sinnlos teuren, orthopädisch ausgefeilten Stuhl, habe den aufrechten Gang verinnerlicht und gelernt, dass Rückgrat heute auch nicht immer gefragt ist. Trotzdem spüre ich die Ausbeuter jeden Abend im Kreuz.
    Auch wir hörten in den 80er-Jahren gern traurige Musik, waren oft betrunken oder beides und vögelten vielleicht mehr als heute, mit Mitte 40. Trotzdem benutzte kein Mensch Viagra, und niemand kam auf die Idee, ganz normale Massenphänomene wie Sexsucht, Alkoholismus oder Depressionen immer gleich als »Volkskrankheit« abzustempeln. Dabei nahm die DDR, einmal abgesehen von Gegenden nördlich des Polarkreises oder etwa Ost-Westfalen, sicher einen Spitzenplatz unter den deprimierenden Orten dieser Welt ein.
    Nur damit das klar ist: Ich möchte keinesfalls die DDR-Zahnarztbohrer, andere Verbrechen des Regimes oder gar die Menschenversuche westdeutscher Pharmakonzerne an ahnungslosen Zonis relativieren. Aber seltsam ist es schon, was für seltsame Krankheiten hier neuerdings wüten.
    Plötzlich bekommen Freunde in meinem Alter einen Herzinfarkt und ihre Kinder ein Attest, weil sie nicht auf Anhieb richtig lesen und schreiben können. Nach Angaben der Vereinten Nationen geht die Zahl der HIV-Infektionen weltweit zurück, aber im Osten Deutschlands steigt sie weiter. Etliche Landsleute sterben immer noch in viel zu schnellen Autos, andere in Afghanistan. Manche reden den ganzen Tag von bisher unbekannten Krankheiten wie Anthroposophie, Antriebs- und Langzeitarbeitslosigkeit. Bei einigen Frauen überlagern sich diese Symptome sogar – dann machen sie eine Heilpraktikerausbildung. Mit jedem jungen Republikflüchtling steigen prozentual die Demenzerkrankungen. Viele Menschen sind so traurig, dass sie ihr Leben in Demokratie und Freiheit am liebsten für immer vergessen würden. Andere wiederum haben vergessen, wie traurig es vorher war.
    Dass im Westen an jeder Ecke eine Apotheke leuchtet, hat mich schon 1989 irritiert. Trotzdem lassen sich die vielen neuen Beschwerden nicht allein mit der pharmazeutischen Gier, der vor allem im Osten wachsenden Armut oder einem gewissen Nachholbedarf an Drogen erklären. Was ist passiert, dass Kinder nur noch unter Medikamenten still sitzen, während sich ihre Eltern totarbeiten oder vor dem Fernseher auf die nächste Hartz-IV-Spritze warten? War an den Warnungen vor dem kranken Imperialismus am Ende mehr dran, als der robuste Menschenverstand eines gesunden DDR-Bürgers wahrhaben wollte? Freiheit ist ansteckend, hochinfektiös! Ein mutierter Erreger, auf den unser Immunsystem nicht vorbereitet war. War das gleich mitgelieferte Breitband-Wundermittel Demokratie vielleicht auch nur ein Placebo? Ergeht es uns wie diesen Urwaldstämmen, die ab und zu mit Glasperlen oder Fernsehgeräten aus dem Amazonas gelockt werden, bevor sie an fremden Zivilisationskrankheiten zu Grunde gehen?
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