Schneckenmühle
Freiheit hat man.
«
Mit Rädern un-tendran, ah, ah, ah …
»
Manchmal verläßt uns einer und geht ein Mädchen auffordern. Wir begleiten das mit höhnischen Kommentaren. Die Mädchen tanzen alle, bis auf Peggy, die alleine auf einem Hocker sitzt, sie hat eine weiße Bluse mit Puffärmeln an. Daß sie sie wahrscheinlich extra für die Disko mitgenommen hat, macht mich fertig. Am Ende der Disko sind wir schon nur noch vier, die nicht getanzt haben. Die Boxen sind scheiße, der Sound katastrophal. Und die Mädchen … Mit denen würden wir nicht mal «für Jeld» bumsen.
13 Ich werde zur Lagerleiterin Rita gerufen, die im oberen Stockwerk ihr Büro hat. Was wohl der Grund für diese Erhöhung ist? Wird sie mir den versprochenen Liebesbrief übergeben? Ich rechne immer damit, für etwas, was mir gar nicht als besondere Leistung aufgefallen ist, ausgezeichnet zu werden.
«Gefällt dir unser Ferienlager?» «Klar.»
«Was macht dir denn besonderen Spaß hier?»
«Na, Tischtennis.»
«Und sonst nichts?»
«Na, wo wir das Wettrennen gemacht haben, mit unseren gebastelten Booten, im Bach.»
Rita legt mir eine Ansichtskarte hin. Felsen über der Elbe, ein Dampfer, die Barbarine mit bedrohlich ausbalanciertem Kopf. «Gruß aus der Sächsischen Schweiz».
«Kannst du dann nicht etwas Positives über deine Ferien an deine Verwandten in Rendsburg schreiben?»
Neben der Episode mit dem Busfahrer hatte ich meinem Cousin berichtet, wie Wulf den «Mondo» entdeckt hatte, den Dennis in die Sani-Tasche geschmuggelt hatte («Darüber lach ich erst morgen …»).
Meine Post ist gelesen worden! Empörung wallt in mir auf, es fühlt sich gut an, sich im Recht zu wissen. Ich bin nicht so verblendet wie Rita, die an den Staat glaubt. «
Deutschland, Deutschland, hörst du mich?
» Ich schicke die Postkarte ab, wie sie ist, ich muß sie ja nur in einen Briefumschlag stecken. Die Klebefalz wird mit weißen Reststreifen von den Marken versiegelt, und zur Sicherheit macht man Striche, damit der Empfänger sieht, ob der Brief geöffnet worden ist. Das kann man auch daran erkennen, daß die Leimschicht auffällig glatt wirkt, sie ist dann über Wasserdampf gehalten und anschließend wieder zugebügelt worden.
Im Bungalow rege ich mich über Rita auf, die meine Karte gelesen hat. Die ist bestimmt in der Partei.
Holger sagt: «Na und? Ich trete auch ein, wenn ich 18 bin.»
«Wieso denn?»
«Man darf sich doch nicht drücken.»
«Aber du bist doch kein Roter?»
«Das hat doch damit nichts zu tun.»
Nach dem Schlafengehen überrascht uns Wulf mit der Aufforderung, uns unsere Sachen über die Schlafanzüge zu ziehen und ihm zu folgen. Wir gehen über die Wiese am Ende vom Lager, balancieren auf Steinen über den Bach und wandern ein Stück in den Wald. Wir setzen uns an den Stamm einer Kiefer, Wulf hat in einem Einkaufsnetz Bierflaschen dabei. Das finden wir sensationell, Holger nimmt sofort einen großen Schluck, wie ein Bauarbeiter. Ich trinke auch, aber ich habe Angst, man könnte mir ansehen, daß ich darin ungeübt bin, außerdem weiß ich nicht, wie schnell man abhängig wird. In der «Abendschau» sind immer Bilder von Drogentoten zu sehen, die zusammengekrümmt in Westberliner Bahnhofstoiletten liegen. Wulf öffnet die nächste Flasche, er macht das, indem er die Kronkorken ineinander verhakt. Ich gebe ihm meinen Hausschlüssel, in den ich im Werkunterricht heimlich eine Kerbe gefeilt habe, damit man ihn als Flaschenöffner benutzen kann. Wie lustig das war, bei «Robinson Junior», als er die Kokosnuß mit Karate-Schlägen öffnen wollte, und dann hat die Frau, mit der er immer «Zinzin» machen sollte, sie einfach aufgeschraubt. Wir lachen uns noch einmal rückwirkend tot. Wulf lacht allerdings nicht mit, er ist so ernst und schweigsam wie immer. Er studiert Mathematik. Das ist ein Fach für die Allerklügsten, die eigentlich auch jede andere Wissenschaft betreiben könnten, wenn es ihnen nicht zu langweilig wäre. Deshalb denke ich, daß Wulf die Welt versteht. Ich habe auch das Gefühl, daß ich die Welt verstehe, es reicht schon, daß ich ein Glas Zucker betrachte – diese vielenkleinen Edelsteine –, um zu spüren, daß das noch niemand vor mir so getan hat. Alle dürfen mal Wulfs runde Brille aufsetzen, aber wir sollen vorsichtig sein, weil er sie selbst gelötet hat, aus Fahrradspeichen.
Sobald wir 18 sind, wollen wir als Leiter wiederkommen, die Zwischenzeit muß irgendwie überbrückt werden. Wulf sagt: «Das
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