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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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ist aber nicht dasselbe, wenn man auf der anderen Seite steht und die Verantwortung hat.» Er zündet sich eine Zigarette an. Ich behaupte, daß ich nie rauchen und trinken werde.
    «Bei der Asche fängt jeder damit an», sagt Wulf.
    «Wo?»
    «Bei der Fahne.»
    «Was?»
    «Mensch, bei der Armee.»
    Wir fragen ihn nach seiner Armeezeit aus, was man dort zu befürchten hat. Über die Quälereien wissen manche etwas zu berichten, sie haben es von ihren älteren Brüdern gehört. Du kriegst Helme an Knie und Ellbogen geschnallt, und dann kegeln sie dich über den Flur, das nennt sich «Schildkröte». Oder du mußt immer wieder einen Baum oder ein Verkehrsschild am Fenster vorbeitragen, damit die drinnen sich vorstellen können, im Zug zu sitzen und nach Hause zu fahren. Mein Vater will immer, daß wir lernen, vor dem Trinken nicht die Flasche abzuwischen, wenn wir sie vom Bruder gereicht bekommen, damit sie sich bei der Armee nicht über uns lustig machen, weil wir uns vor fremder Spucke ekeln.
    Wulf sagt dazu nichts, außer, daß alles im Leben irgendwann vorbeigeht. Aber anderthalb Jahre, das ist doch eine unfaßbar lange Zeit? Wenn man von jetzt zurückrechnetund dann in die Zukunft, das kann man sich gar nicht vorstellen. Die Fallschirmspringer, sagt Wulf, hätten die härteste Ausbildung. Die würden auf der Insel Poel ausgesetzt und müßten sich ohne Geld und Verpflegung im Schutz der Nacht zu einem Sammelpunkt im Erzgebirge durchschlagen. Als Fallschirmspringer lerne man, lautlos zu töten, dazu müsse man dem anderen ein Messer in die Nieren stechen und es umdrehen. Der würde nicht mal schreien, nur so geräuschlos stöhnen. Aber warum laufen Fallschirmspringer überhaupt zu Fuß?
    Solche Geschichten gehen in meinen Erfahrungsschatz ein, ich werde sie weitererzählen, bei jeder Gelegenheit. Wir sitzen ja so oft auf dem Geländer vor der Kaufhalle, direkt über der Behindertenrampe, und reden, da braucht man immer Nachschub an Witzen und Horrorgeschichten. Ist Wulf in Henriette verliebt? «Die hat ’ne schöne Figur», sagt er nachdenklich. Auf so etwas habe ich bei Frauen bis jetzt noch nicht geachtet. In seiner Schweigsamkeit scheint mir die Erfahrung eines langen Lebens und die Weisheit der ganzen Welt zu liegen. Ich würde mich auch gern so wortkarg geben, aber das würde gar keiner bemerken.
    Wulf hat uns mitgenommen, um die Zeitkapsel zu vergraben. Wir benutzen eine ausgewaschene Papptonne von der Vierfruchtmarmelade. Was gehört denn in eine Zeitkapsel? Vielleicht gibt es später gar nichts mehr auf der Welt, nach dem Atomkrieg. Ich habe eine Kopfschmerztablette von meiner Mutter. Wundstarrkrampfpulver aus der Sani-Tasche. Es ist auch wichtig, Kunstwerke zu retten, für alle reicht der Platz natürlich nicht. Die «Mona Lisa», die war als Monatsbild der «Frösi» beigelegt. Wir schreibendie besten Witze auf, die wir kennen. (Wulf schreibt: «Keiner ist unnütz im Sozialismus. Er kann immer noch als schlechtes Beispiel dienen.» Das soll ein Witz sein?) Ein «Enterpreis»-Bild wird gespendet. Und ich habe meine geschnittenen Fußnägel gesammelt, die wollte ich eigentlich meinem Vater schicken, der sie als Blumendünger benutzt. Einen Pfennig können wir auch noch entbehren. Wer weiß, was der später wert ist? Eines Tages wird ein Archäologe unsere Schachtel finden, das fühlt sich so feierlich an, wenn man sich das jetzt schon vorstellt. Auf die Tonne schreiben wir: «Erst im Kommunismus öffnen.»



14 Ich werde davon wach, daß Wolfgang umblättert. Ich öffne die Augen und sehe in Eikes Gesicht, der im Bett gegenüber liegt. Es fühlt sich seltsam an, daß ich von allein aufwache, kommt uns heute niemand wecken? Holger und Marko stehen am Fenster und gucken zum Steinhaus. Auf dem Parkplatz diskutiert Rita mit Jörg. Wenn man jetzt Lippenlesen könnte oder ein Richtmikrophon hätte. Sie setzen sich in Bewegung und überqueren die Straße. Sofort springen alle aus den Betten, wir müssen den Biergeruch loswerden, sonst werden wir nach Hause geschickt. Wir stürzen zu unseren Schränken, spülen den Mund mit Zahnpasta aus und spucken aus dem Fenster. Als sich die Tür öffnet, erstarren wir vor Angst. Diesmal hätte es ja keinen Sinn, sich schlafend zu stellen. Drei haben nach dem Besen gegriffen und teilen sich den Besenstiel.
    Rita sagt, daß Wulf abgereist sei. Es bestehe Anlaß zu der Vermutung, daß er im Begriff sei, sich und seine Heimat zu verraten. «Vielleicht sind wir an manche

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