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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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bitte tu das nie, Joe …
»
    Ich zog einem den Kamm aus der Gesäßtasche seiner Jeans, die brauchte man, wenn man sich als Mopedfahrer die langen Haare kämmen wollte. Der Griff war mit dem Aufkleber von einer Tictac-Packung verziert. Bei der nächsten Runde steckte ich ihm den Kamm wieder rein. Er nahm das gar nicht zur Kenntnis, die Welt hätte untergehen können.
    Diesmal kommt andere Musik vom Tonband. Marko rät immer als erster den Titel. Wenn ein Lied gespielt wird, das keiner von uns kennt, dann ist es «von hier», und wir verziehen angewidert das Gesicht. Ein Chor aufgehetzter Kinder singt mit hexenhaft schrillen Stimmen: «
Das ist neu, das ist neu … Hurra, hurra, die Schule brennt!
» Wissen sich die Schüler im Westen nicht anders zur Wehr zu setzen? Und ein Lied mit zackig skandierter Melodie, Marko murmelt den Text mit: «
Hun-dert-zwo-und-drei-ßigsech-zehn-acht …
»
    «Was ist denn ein Sperrbezirk?»
    «Na, wo die Nutten sind.»
    «Wer?»
    «Die Nutten!»
    «Wer sind denn die Nutten?»
    «Mensch, die bumsen für Jeld!»
    Ich hatte einmal an der seitlichen Außenwand der Klobaracke gestanden, wo es muffig roch und man in eine schräg angebrachte Regenrinne pinkelte, möglichst so, daß man nicht in den vorbeisickernden Urin eines anderen zielen mußte. Ein Großer hatte neben mir gestanden und gesagt: «Ej, du hast heut nacht jebumst.» Jebumst?
    Wie machen die das, wenn sie tanzen? Ich würde es mir gerne abgucken. Hiroshima-Holger mit dem Lederarmband und der Kette mit Rasierklinge um den Hals. Eigentlich heißt er Holger van Jendratschek. Wo es bei uns doch keine «Junker» mehr gibt? Außer Manfred von Ardenne, der das Fernsehen erfunden hat, wofür ich ihm ewig dankbar sein werde, leben die doch jetzt im Westen: Ulrike von Möllendorff, Graf Lambsdorff und Fritz von Thurn und Taxis.
    In Holgers Kalender habe ich über Wochen die gleiche Eintragung gelesen: «Bei Sabine». Was hat er bei Sabine gemacht? Ich stelle mir die beiden in ihrem Kinderzimmer vor, auf dem Doppelstockbett, die Beine baumeln runter, es wird dunkel.
    «Liebst du mich?»
    «Mehr als alles in der Welt.»
    «Wenn ich nur glauben könnte, daß du die Wahrheit sagst.»
    «Ich werde es dir beweisen.»
    «Und wie willst du das tun, Liebster?»
    «Indem ich alle deine Feinde vernichte.»
    Die Mutter klopft an die Tür: «Habt ihr Hunger?» «Nein.» «Na, ihr lebt wohl nur von Luft und Liebe?»
    Holger braucht immer viel Platz beim Tanzen, es sieht ein bißchen aus wie eine Übung am Seitpferd. Er behauptet, er habe das von einer Sendung auf NDR, in der einmal im Monat neue amerikanische Tanzstile erklärt würden. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß ich von der Existenz irgendeiner Fernsehsendung nichts mitbekommen haben soll. Sie könnte höchstens in der Woche laufen, spätnachts, wenn ich schlafen muß.
    «
Deutschland, Deutschland, hörst du mich?
» Die Textstelle singen immer alle mit. Man kann sich kaum gegen die Begeisterung wehren, die einen erfaßt, wenn man dieses fremdartige Wort ausspricht, und auch noch so, als rufe man diesem Deutschland zu, daß es mal gucken soll, weil man sich gerade so lässig fühlt.
    Was ist der Trick beim Tanzen? Viele sehen nur aneinander vorbei, treten von einem Fuß auf den anderen und schlenkern nachlässig mit den Armen. Aber nicht einmal das traue ich mich. Im Kindergarten haben wir uns an den Händen gefaßt und zu: «Laurenzia, liebe Laurenzia mein» abwechselnd Kniebeuge gemacht. Danach habe ich irgendwie den Anschluß verloren. Ich ringe mit mir, ein Mädchen aufzufordern, aber Lied für Lied wird gespielt, und dann ist es wieder zu spät, weil schon das letzte läuft. Ein Ziehen im Bauch, ein heftiger, nicht unangenehmer Kummer. Die Menschen aus der Zukunft, die mich sehen, leiden richtig, weil sie mir nicht helfen können.
    Zum Glück tanzt Marko auch nicht. Die «Boxen» seien scheiße, womit er die Lautsprecher meint. Wer sich auskennt, sagt aber «Boxen» dazu. Die hier seien nicht mal «Dreiweg-Boxen». Am lächerlichsten ist, daß man hier noch mit Tonbandgerät arbeitet, statt mit Kassettenrekorder. Die Bänder mit der Musik lagern in einem Schrank und stammen aus früheren Jahren. Die Hübschen tanzen mit den Hübschen, die Häßlichen mit den Häßlichen, die Leiterinnen mit den Leitern und der Rettungsschwimmer mit der Krankenschwester, obwohl die das gar nicht will. Wir hocken am Rand der Tanzfläche und spielen Skat. Abheben oder draufklopfen, soviel

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