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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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werden die Blumen von Sprengstoffspürhunden untersucht. Er hat einmal seine Jacke im Gebäude vergessen und ist noch einmal reingegangen, um sie zu holen, gleich haben sich mehrere Sicherheitsleute auf ihn gestürzt und ihn zu Boden gerissen. Schnittblumen sind so begehrt, daß seinem Betrieb zum Tausch Fleisch angeboten wird. Am Jahresende gibt es eine Tombola, bei der die Preise aus den Bestechungsgaben stammen, flaschenweise Rosenthaler «Kadaver».
    Meine Schwester arbeitet ein Jahr in einer Glasbläserei, weil sie Architektur oder Bühnenbild studieren wird, so genau weiß ich das gar nicht. Die meisten Glasbläser sind Alkoholiker und sterben mit Mitte 40 an Lungenkrankheiten. Da die Scheiben in der Werkstatt kaputt sind und es kein Glas für neue gibt, haben sie vor den Fenstern eineMauer hochgezogen. Meine Schwester ist «Einträgerin», sie muß die Kelche an einer Stange durch den Raum zum Ofen tragen. Ihre wichtigste Aufgabe ist es aber, den Arbeitern das Bier heranzuschaffen, das sie wegen der Hitze dringend benötigen.
    Hinter der Gerätescheune gibt es eine Remise, in der die grüne Tischtennisplatte steht. Man kann hier auch bei Regen Chinesisch spielen, spektakuläre Ballwechsel, bei denen man jeden Winkel des Raums ausnutzt und dann schnell weiterrennt, immer im Kreis um die Platte. Seltsam, daß man sogar beim Tischtennis anstehen muß, bis man endlich dran ist. Man darf sich nicht zu offensichtlich anstrengen, muß aber durchblicken lassen, daß man könnte, wenn man wollte. Auf meiner Kelle steht «BFC D», mit Kugelschreiber zwischen die Noppen geschrieben. Eine Seite Noppen und die anderen glatt, zum «Schnibbeln». Der Griff ist mit Lenkerband umwickelt und der Rand mit schwarzem, sorgfältig zurechtgeschnittenem Isolierband beklebt. Die Kelle zwischen Daumen und Zeigefinger halten, «Penholder-Technik», so spielen die Chinesen.
    «Mein Opa hat ’n Tunnel nach Westberlin im Keller!»
    «’nem Kumpel seinen Onkel hamse mal durch die Mauer gezogen, da sind nämlich Türen drinne!»
    «Wenn die Russen keinen Schnaps mehr haben, trinken se Benzin.»
    «Wissen wa schon, erzähl mal watt Neuet …»
    «Meine Schwester muß in PA Deoroller-Kugeln entgraten.»
    «Watt is denn ’n Deoroller?»
    «Na so was wie ‹Bac›.»
    «Ick weeß bei der Werbung nie, watt ditt sein soll.»
    «Bei der Atze von einer aus meiner Klasse arbeitet die Klasse in Pankow inner Negerkußfabrik, die können so vülle Negerküsse essen, daß se se als Fußball nehmen.»
    «Da war meine Keule och.»
    «Watt is denn ’ne ‹Keule›?»
    «Na, ick bin die Atze von meine Keule.»
    Birgit, das Mädchen, dem ein halber Schneidezahn fehlt, hat den Tick entwickelt, einen nach dem anderen mit der Frage: «Willst du mit mir gehen?» in Verlegenheit zu bringen. Ich habe Angst, daß ich irgendwann an die Reihe komme, und überlege fieberhaft, was ich antworten könnte. Wenn sie mich küssen will, könnte ich sagen: «Schmeckt nach Dauerlutscher», aber das würde vielleicht nicht passen.
    Das wichtigste Gesprächsthema ist Musik, deshalb läuft auch ein Rekorder, wir halten es kaum aus, wenn einmal keine Musik zu hören ist. Wenn beim Umschalten aus Versehen Klassik kommt, stürzen wir schnell hin und wechseln den Sender, diese altmodischen Geräusche bereiten uns Unbehagen, man muß es dann zum Rekorder schaffen, bevor man vor Langweile stirbt. Warum ist immer nur von Beethovens «Fünfter» oder Beethovens «Neunter» die Rede? Was ist mit der «Zweiten», der «Vierten» und der «Achten»? Ein Walkman, das wäre vielleicht der letzte Wunsch, den ich aus dem Westen hätte, damit würde ich mich für immer zufriedengeben. In der Kaufhalle stehen am Technik-Stand zwei solche Geräte unter einer Plexiglashaube, die nie jemand kauft, weil sie so teuer sind. Der mit Radio für 1000 Mark und der ohne für 700. Die hat Erich Honecker aus Japan mitgebracht, zusammen mit Bildröhren für Farbfernseher und ein paar tausend Mazdas.Wir tragen zusammen, was es für neue Lieder gibt, meistens bringen die Gruppen abwechselnd ein trauriges und ein schnelles raus. Wen man gut findet, steht auf der Tischtenniskelle. Kein Titel schafft es, sich von uns unbemerkt in die Charts zu schummeln, die wir «Charles» nennen. Es ist mir peinlich, daß ich die Beatles gut finde, das sind «Oldies», ein Lied von ihnen würde nach wenigen Sekunden abgeschaltet. Es ist quälend, daß niemand bereit ist, die Wahrheit zu erkennen. Ich kann mir keinen besseren

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