Schneckenmühle
Erscheinungen zu naiv herangegangen.» Ab sofort werde Jörg unsere Gruppe übernehmen. Er ist einer der «Springer», so nennen sie die überzähligen Erwachsenen, die als Ersatz mitgekommen sind. Wir sind mißtrauisch, Jörg ist Matrose, und ihm eilt der Ruf voraus, als einziger auch die Jungs der ältesten Gruppe morgens zum Aufstehen bewegen zu können. Was ist denn mit Wulf? Ist er wirklich abgereist? Oder ist er jetzt ein Zombie? Ist Rita ein Zombie und hat Wulf auf dem Gewissen?
«Vielleicht ist er ja zu den Partisanen gegangen? Warum hat er das mit den Fallschirmspringern erzählt?»
«Partisanen gibt’s doch gar nicht mehr. Es gibt doch keinen Faschismus.»
«Der ist bestimmt rüber», sagt Holger.
«Rüber? Wie denn?»
«Na, über Ungarn.»
«Und die Mauer?»
«Was denn für ’ne Mauer?»
«Na, in Budapest, das ist doch die Hauptstadt von Ungarn.»
«In jeder Hauptstadt ist doch nicht ’ne Mauer.»
«In Ungarn gibt’s Danone-Joghurt», sagt Dennis.
«Und Schweppes.»
«Quatsch, Ungarn ist doch sozialistisch.»
«Trotzdem gibt’s da Danone. Da sind unten Früchte drinne, zum Umrühren.»
«Wieso muß man den denn umrühren?»
«Ist doch toll.»
«Aber warum muß man das selber machen?»
«Mein Vater hat solchen Zweikomponenten-Kleber, den rührt man auch selber zusammen, das hält dann ewig.»
«Aber Joghurt ist doch nicht zum Kleben.»
«Die werden sich schon was dabei gedacht haben.»
Unser Joghurt hat ja immer unterschiedliche Konsistenz. Wenn er im Sommer flüssig ist, kann man ein Loch in den Aluminiumdeckel pieksen und ihn austrinken. An manchen Tagen zittert er aber auch wie rosa Götterspeise unter einer Lache Flüssigkeit. Die weiße Plastepackung, die mit den Jahren immer dünner und durchscheinender geworden ist. Mit dem Löffel kommt man beim Auskratzen nicht in die knisternden Ecken. Es schmeckt immer etwas chemisch,eben wie Joghurt. Wenn es bei der Schulspeisung Joghurt gibt, werfen wir ihn ins Klappfenster der Rewatex-Reinigung im Dienstleistungswürfel und rennen schnell weg.
Der Tagesplan wird durch dauernden Regen durcheinandergebracht, uns könnte nichts lieber sein, wir sind froh, wenn wir im Bungalow bleiben können und nicht ins Tapetenmuseum müssen. Mißtrauisch beobachte ich, ob der Bach anschwillt, zum Glück stehen die Bungalows auf Stelzen. Wir spielen Skat, oder wir schnipsen an der Tischkante eine Streichholzschachtel und zählen die Punkte, je nachdem, auf welcher Fläche sie aufkommt. Am meisten Punkte würde es geben, wenn die Schachtel auf einer Ecke stehenbleibt, aber das ist eigentlich unmöglich, dann müßte es schon sehr lange regnen. Fingerhakeln geht auch, das haben wir mal im Fernsehen gesehen, in Bayern machen die Männer das, bis der Finger blutet. Oder Armdrücken, mit brennenden Kerzen drunter. Marko kann sich am Tisch hochstemmen, so daß er waagerecht in der Luft steht, alle versuchen, ihm das nachzumachen. Aber man hat trotzdem noch zuviel Energie. An den Querlatten, die das Dach tragen, kann man Klimmzüge üben. Man läßt sich krachend aufs Bett fallen und rüttelt an den Eisenstäben. Besonders Marko, der wirklich gerne jetzt schon 18 wäre.
Meine Mutter schickt mir aus dem «Troll» ausgeschnittene Rätsel und einen Satz Märchenpostkarten zum Sammeln. Daß es mir im Lager gefalle, sehe sie ja daran, daß ich bisher so wenig Zeit zum Schreiben gefunden hätte. Mein Bruder habe allerdings auch noch nicht geschrieben aus Rumänien, und meine Schwester müsse im Moment hart arbeiten. Sie schreibt, daß sie sich für die Küche einenMülleimer mit Pedal gekauft haben, und ich bekomme kurz eine kribbelnde Vorfreude auf zu Hause, weil ich mir so einen praktischen Mülleimer, der einem das Bücken erspart, immer für uns gewünscht habe.
Mein zweitältester Bruder Jürgen kommt im Herbst zur Armee. Er ist mit der Jungen Gemeinde in Rumänien wandern, in zwei, drei Jahren darf ich vielleicht mitkommen. Mein ältester Bruder war sogar schon im Kaukasus, er ist einfach von einer organisierten Reise auf die Krim verschwunden und hat seinen SV-Ausweis als Paß benutzt. Im Moment arbeitet er in einer Gärtnerei, weil er kein Abitur machen durfte. Die meisten aus der Jungen Gemeinde sind Schäfer, Förster, Krankenpfleger oder Schneider. Die Berufsberaterin konnte meinem Bruder nur zwei Berufe vorschlagen: Kammerjäger oder Gärtner. Seine Gärtnerei liefert immer Blumen für den Palast der Republik, wenn dort Parteitage stattfinden. Dann
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