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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Schule nur einmal im Jahr die Gelegenheit zu schießen, beim Wettbewerb um die «Goldene Fahrkarte», und darauf freue ich mich immer wochenlang. Aber auf den Karten im Kugelfang ist in der Mitte, zwischen den vier Zielscheiben, eine schwarze,kantige Silhouette von einem Menschen mit siebeneckigem Kopf zu sehen, mit einem Zielscheibenkreis, dessen Mittelpunkt genau dort liegt, wo sich die unteren Rippen treffen. Eigentlich könnte es höchstens ein Roboter sein, er hat ja gar kein Gesicht, aber man kann auch nicht ausschließen, daß es ein Mensch ist, der einem den Rücken zukehrt. Und auf Menschen schießt man nicht.
    «Ich darf eigentlich nicht Krieg spielen.»
    «Wieso? Schach ist doch auch ein Kriegsspiel.»
    «Aber da bringt man niemanden um.»
    «Du vielleicht nicht, Califax, weil du noch nicht weißt, daß eine Partie auch mehr als drei Züge dauern kann.»
    «Ich verlier’ immer die Dame.»
    «Weil du Kolma Maier-Puschi mit Eröffnungslehre verwechselst.»
    «Warum hast du dich eigentlich nicht für die Mathe-Schule beworben?»
    «Ist doch Schwachsinn.»
    «Wieso? Was willst du denn werden?»
    «Ist doch egal, was man wird, am Ende ist man tot.»
    «Aber man muß doch das beste aus seinem Leben machen.»
    «Dein Leben ist völlig uninteressant im Vergleich zu dem eines afrikanischen Kindersoldaten.»
    Abends höre ich aus dem Essensaal die Stimmen der Kinder, später werden die Stühle hochgestellt, dann wache ich im Dunkeln auf und höre die Grillen zirpen. Morgens kann ich durchs Fenster den Fahnenappell sehen. Ein hervorragendes Versteck. Leider merken sie nicht, daß ich sie heimlich beobachte. Ob sie mich schon vergessen haben? Mein Hals tut weh, ich kneife mir beim Schlucken in den Kehlkopf, um mich vom Schmerz abzulenken. Ich zwingemich, eine Weile nicht zu schlucken, und sammle meine Spucke, dann öffne ich das Fenster über dem Bett und versuche, bis über das Fensterbrett zu kommen. Ich werfe den tschechischen Schaumstoffball an die Wand und fange ihn auf. Wenn er runterfällt, muß ich ihn zurückholen, ohne das Bett zu verlassen, es also immer noch mindestens mit einer Zehe berühren, während ich mich, auf den Händen laufend, vortaste. Stundenlang beobachte ich einen Wasserfleck an der Decke und überlege, ob er größer wird oder ob es eine optische Täuschung ist. Ich schreibe Postkarten, die grüne Briefmarke mit dem Palast der Republik ist schon draufgedruckt. Ich liebe die automatischen Fußabtreter am Eingang, die einem die Sohlen putzen. Ich benutze jetzt ein System von ineinander verschachtelten Klammern, weil man von einem Satz immer wie durch eine Falltür in einen Unter-Satz fällt. Fast jedes Wort wird unterstrichen oder in Anführungsstriche gesetzt, ein Zwang, dem ich nicht widerstehen kann, der Leser muß doch wissen, wie er die Wörter zu verstehen hat. «Mir tut der Hals weh (wenn ich ‹schlucke›). Merke: Ich bin ‹krank›.»
    Nach ein paar Tagen wache ich nachts auf, und mir bleibt das Herz stehen vor Schreck, es kommt mir vor, als ob jemand im Zimmer ist. Ich versuche, einen Zeh zu bewegen, ohne daß er sich bewegt. Es ist keiner dieser Alpträume, in denen man gelähmt ist. Ich wünsche mir, daß es nur ein Schatten ist, aber ich bin mir nicht sicher und rühre mich nicht. Einige Minuten scheinen so zu vergehen, und ich schlafe fast wieder ein, da greift der Schatten nach meinen Stullen.
    «Peggy!? Hast du mich erschreckt!»
    «Ich hatte Hunger», sagt Peggy.
    «Bist du verrückt? Davon kann man sterben, wenn man sich so erschreckt!»
    «Ich hatte aber Hunger.»
    «Was machst du denn hier?»
    «Ich bin abgehauen.»
    «Wieso denn?»
    «Es hat mir nicht mehr gefallen.»
    Wir lauschen, ob draußen jemand ist. Die Leiter sitzen unten im Fernsehzimmer und trinken Pfefferminz-Likör und Bier. Man hört sie durcheinanderreden, das Tonbandgerät läuft: «
How, how I wish you where here.
» Ich folge Peggy über den Flur zu einer Treppe, die auf den Dachboden führt. Mit einem umgebogenen Nagel schließt sie auf. Man sieht überhaupt nichts. Sie zündet eine Kerze an. Auf dem Boden liegen eine braune Decke und eine angebrochene Packung Russisch Brot.
    «Und was ist hier?»
    «Mein Versteck.»
    «Wieso denn?»
    «Es hat mir nicht mehr gefallen.»
    «Wo?»
    «Na, im Lager.»
    Seltsam, ihr gefällt es nicht mehr, und ich möchte am liebsten für immer bleiben.
    «Ich brauch nur was zu essen. Kannst du mir manchmal was bringen?»
    In einem Film aus dem Ferienprogramm gab ein Junge

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