Schnee an der Riviera
berührt, das schwöre ich dir, vielleicht war hinter ihr die Stufe vom Lehrerpult und sie ist gestolpert, ich weiß nicht, wie sie dermaßen stürzen konnte. Und er, er konnte doch kein Blut sehen, hat sich zu Tode erschreckt. Ich bin ihm instinktiv hinterhergerannt, weil er mich so verzweifelt angesehen hat. Auf der Treppe sagte er immer wieder: ›O Gott, was habe ich getan, Scheiße, ich hab sie umgebracht‹, und ich zu ihm: ›Ach Quatsch, die ist hart im Nehmen, das ist nicht mehr als ein Kratzer, komm mal wieder runter.‹
Als wir auf das Dach kamen, hat er mir sein Mobiltelefon in die Hand gedrückt.
›Nimm du das, versteck es, gib es niemandem. O mein Gott, Mau, wenn die Galli wirklich stirbt? Ich hab eine Scheißangst, ich bin so ein Idiot, ich wollte ihr doch nichts tun, was soll jetzt nur werden?‹
Er hat sich gar nicht wieder eingekriegt. Ich habe sein Handy eingesteckt und weiter versucht, ihn zu beruhigen, aber er war vollkommen außer sich, totale Panikreaktion. Dann sind deine Rambos gekommen. Den Rest kennst du.«
»Erzähl weiter, Mau.«
Maurizio wirkte nun sehr müde.
»Ich habe es bei uns in der Wohnung versteckt, in einem Strumpf. Sein Handy, meine ich.«
Wieder eine Pause, diesmal länger. Nelly wartete schweigend.
»Ich wusste nicht mehr, wem ich noch trauen sollte. Dir konnte ich nichts sagen, weil ich Moni nicht in die Sache hineinziehen wollte, wegen ihrer blöden Drogengeschichten, und dann wusste ich einfach nicht, was das mit dem Handy sollte. Ich habe versucht herauszufinden, ob irgendwelche Nummern gespeichert waren, aber da war nichts, oder der Akku war leer. Ich dachte, vielleicht wusste er nicht mehr, was er tat, vielleicht spielt das Handy überhaupt keine Rolle.«
Er atmete tief durch, um Luft zu schöpfen. Das Reden hatte ihn angestrengt. Er lehnte sich in die Kissen, und Nelly kämpfte gegen ihre aufsteigende Muttersorge an.
»Aber irgendwas Merkwürdiges steckte dahinter, etwas, das mit der Schule zu tun hatte. Dieser Gian, weißt du ... er versorgte jeden, der wollte, mit Shit, und ich hatte ihn ab und zu im Anatra azzurra gesehen. Wahrscheinlich beschränkte er sich nicht auf Shit. Ich hatte ihn im Verdacht, als dieser Mistkerl, der sich als Polizist ausgab, mich bedrohte. Er sagte doch, Habib besäße etwas, das ihm nicht gehöre, an dem man sich die Finger verbrennen könne. Das er angeblich Franci gegeben hatte, aber das war gelogen. Ob ich etwas davon wüsste oder es vielleicht selbst hätte. Und wenn ich etwas wüsste, müsste ich es sagen, oder ich würde genauso enden wie Franci. Dass ›sie‹ mich dann kriegen würden. Ich weiß nicht, wie ich ihn davon überzeugen konnte, dass ich von nichts eine Ahnung hatte. Ich hatte Monica seit Francis Tod nicht mehr gesehen. Aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, herauszufinden, wer ihn ermordet hat. Ich fühlte beziehungsweise ich fühle mich immer noch verantwortlich, weil ich ihn in die ganze Sache hineingezogen habe. Monica ist meine Angelegenheit, nicht Francis. Es ist nicht gerecht, dass er dafür sterben musste.«
»Mau, es war Habib, der Franci in seine gefährlichen Kreise hineingezogen hat. Du kannst nichts dafür. Und Franci hat das aus Solidarität zu diesem Jungen getan. Es war seine Entscheidung, auch wenn er die Folgen nicht in ihrer ganzen Tragweite ermessen konnte. Für seinen Tod ist allein der Scheißkerl verantwortlich, der ihn erschossen hat.«
Das stimmte, doch Mau schien es noch nie so gesehen zu haben. Zum ersten Mal betrachtete er die Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel, und einen Moment lang wirkte er erleichtert. Doch die Schuldgefühle gewannen schnell wieder die Oberhand. Langsam schüttelte er den Kopf und seufzte erneut tief. Nelly wurde klar, wie sehr ihr Sohn unter dem Verlust des Freundes litt. Mühsam fuhr der Junge fort:
»Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass dieser Dreckskerl ihn umgebracht haben soll, der dich in der Villa erschießen wollte und den du dann getötet hast. Woher hätte er wissen sollen, dass Franci auf dem Dach war und alles, so früh am Morgen? Gian dagegen war in der Schule. Oder besser gesagt, vor der Schule.«
Er hatte schnell gesprochen, jetzt lehnte er sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Seine Mutter gab ihm einen Moment der Erholung.
»In Castagnole saß ich wie auf glühenden Kohlen: Als herauskam, dass nicht dein Polizist Franci getötet hatte, sondern jemand, der aus dem Nachbarhaus geschossen hatte, wollte ich dich
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