Schnee an der Riviera
Handbewegung.
»Sehr gut. Die Missverständnisse, wegen der auf Polizisten geschossen wird und durch die ein Mann zu Tode kommt, klären wir im Präsidium. Holen Sie sich ruhig eine Legion von Anwälten zur Verstärkung, wir gehen.«
ACHTER TAG
Morgen
Da lagen die Zeugenaussagen, unterschrieben und gut sichtbar auf ihrem Schreibtisch. Nelly las sie zum hundertsten Mal, während Esposito ihr seufzend gegenübersaß und immer noch leicht gereizt war, dass er am Vortag, einem Sonntag!, so dringend ins Präsidium gerufen worden war und dafür eine schöne Dame in Portofino hatte sitzenlassen müssen. Allem Anschein nach standen sie kurz vor dem Durchbruch, hatte Nelly sowohl ihm als auch Richter Ferrari am Telefon gesagt, und nun schien alles zu zerplatzen wie eine Seifenblase.
»Was für ein Schlamassel«, wiederholte der stellvertretende Polizeipräsident nun schon zum dritten Mal.
Etwas anderes schien ihm nicht einzufallen. Nelly ignorierte ihn. Sie folgte den Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, suchte zwischen den Zeilen etwas, das weniger als den Anschein einer Wahrheit hatte, die unwahrscheinliche Wahrheit. Aber was hieß schon Wahrheit, Nelly zweifelte allmählich daran, dass es sie überhaupt gab. Maus Wahrheit, die von Albini, die von Monica oder die der Pittalugas – andere konnten die ihre nicht mehr präsentieren, weil sie tot waren. Die Lebenden logen alle miteinander.
»Sie lügen, alle«, sprach sie ihren Gedanken laut aus.
»Na, wunderbar. Und können wir das beweisen?«, fragte Esposito sarkastisch.
»Ich brauche noch ein wenig Zeit.«
Tano Esposito schüttelte den Kopf und ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken.
»Er sieht schon verdammt gut aus«, dachte Nelly, als sie ihn so betrachtete, und zensierte diesen dämlichen Gedanken gleich wieder. Der stellvertretende Polizeipräsident hatte helle, wache Augen, ein gebräuntes, regelmäßiges Gesicht und ein gewisses Etwas, das die Frauen anzog. Das zumindest Nelly anzog. Außerdem war er offensichtlich ein Fachmann für Blicke, so wie er sie nun ansah, als er ihre wenig professionelle Aufmerksamkeit auf sich spürte. Schnell senkte sie die Augen.
Er seufzte erneut. Nelly erwartete sein viertes »Was für ein Schlamassel«, doch diesmal trafen die Worte des Polizeivize sie unvorbereitet.
»Die Sache ist zu groß geworden für einen allein, zumal für jemanden, der persönlich involviert ist. Und es gibt einen weiteren Toten, erschossen von Polizeiseite, legitime Notwehr, einverstanden, aber die genauen Umstände müssen noch geklärt werden. Das macht ein Verfahren unvermeidlich.«
»Nehmen Sie mir den Fall nicht weg, bitte. Ich weiß, dass ich ganz nah dran bin an einem konkreten Ergebnis, da steckt was Größeres hinter dieser ganzen verrückten Geschichte.«
Sie war nicht bereit, sich kampflos geschlagen zu geben. Doch Esposito fiel auf ihren Bluff nicht herein.
»Vager geht’s nicht. Soll ich das dem Polizeipräsidenten erzählen, der alle zwei Stunden bei mir anruft und dazwischen noch einmal?«
»Sagen Sie ihm, dass Sie die Leitung der Ermittlungen übernommen haben. Tun Sie es, ich arbeite Ihnen zu, aber lassen Sie mich weitermachen, wenn auch aus dem Hintergrund. Bitte ziehen Sie mich jetzt nicht ab.«
»Ist Ihnen klar, was Sie da von mir verlangen?«
»Habe ich jemals meine Aufgaben nicht zufriedenstellend erfüllt? Habe ich nicht wenigstens ein bisschen Vertrauen verdient?«
»Dottoressa Rosso, Nelly, Sie haben die Zeugenaussagen gelesen.«
»Die lügen doch alle.«
»Das haben wir verstanden. Aber wie lautet die Wahrheit?«
»Wenn Sie das wirklich wissen wollen, lassen Sie mich weitermachen.«
»Selbstvertrauen haben Sie ja, was? Mittlerweile gibt es hier zwei ganz frische Leichen, von denen zufälligerweise eine durch Sie ums Leben gekommen ist. Eine banale Verwechslung, nehme ich an.«
»Ach Quatsch, Verwechslung!«, brach es aus Nelly heraus. »Sie glauben doch nicht etwa diesen Unsinn, dass die beiden die Kinder beschützen wollten und nicht gemerkt haben, dass wir Polizisten sind, weil wir in Zivil waren und uns angeblich nicht zu erkennen gegeben haben! Das ist absurd! Und mein Bericht, Gerolamos Bericht, zählen die denn gar nicht? Und der Tod von Caprile? Sie waren am Ort des Verbrechens, kurz bevor wir ankamen!«
»Verbrechen, Verbrechen ... bislang ist es Selbstmord. Und die Rolle Ihres Sohnes wird immer unklarer. Auch wenn das Pittaluga-Mädchen bestätigt, dass sie ihn aus seinem Versteck
Weitere Kostenlose Bücher