Schnee an der Riviera
in sich hinein. Es ärgerte ihn maßlos, ausgerechnet jetzt so kaltgestellt zu sein.
»Körperlich geht’s mir gar nicht so schlecht, aber es nervt mich kolossal, tatenlos rumliegen zu müssen. Ich hab von dem ganzen Irrsinn gehört, Nelly. Von dem armen Jungen und Mandelli. Von deinem Sohn. Wovon geht man aus? Ist wirklich alles so, wie es scheint, ein beschissener Unfall?«
Er kam immer sofort auf den Punkt.
»Ich weiß es nicht, Marco. Es gibt einige Unstimmigkeiten. Sobald ich kann, rufe ich dich an und lass dich die Einzelheiten wissen, aber versuch jetzt erst mal, dich zu schonen und möglichst schnell wieder auf den Damm zu kommen. Wir brauchen dich hier, aber bitte gesund.«
»Ich wäre sofort da, wenn ich könnte. Ich setze mich mit Privitera in Verbindung und werde die Sache so gut ich kann von hier aus verfolgen. Versprich mir, dass du mich auf dem Laufenden hältst. Du weißt, wie sehr ich Mandelli geschätzt habe.«
»Okay, ich versprech’s, und du bleibst hübsch brav, sonst dauert es doppelt so lang, bis du wieder auf den Beinen bist. Ciao.«
Als sie aufgelegt hatte, versuchte Nelly sich Marco Auteri ans Bett gefesselt vorzustellen, diesen untersetzten, sportlichen Kerl, der ständig in Bewegung war und niemals auch nur einen Schnupfen hatte.
»Der kriegt einen Nervenzusammenbruch, wenn er sich mal nicht rühren darf«, dachte sie und bedauerte es noch einmal, in diesem Fall nicht mit ihm zusammen ermitteln zu können. Aber es half nichts.
Durch ein geheimes, selbst den gewieftesten Journalisten unbekanntes Hintertürchen verließ Nelly das Gebäude und ließ sich mit ihrem Assistenten Gerolamo Privitera zum Klee-Gymnasium fahren.
Das Gymnasium war wie ausgestorben. Nur ein paar verschreckte Hausmeister schlichen durch die Flure und sprachen im Flüsterton, als läge Franci aufgebahrt in der Aula. Und tatsächlich schwebte sein Geist irgendwie noch zwischen diesen Mauern, die ihn lachen, herumflachsen und vor den Prüfungen und Klassenarbeiten zittern gesehen hatten und in denen er ein ebenso schreckliches wie rätselhaftes Ende genommen hatte. Der Direktor saß in seinem Büro und sah noch kleiner und eingefallener aus als sonst. Mit den brennenden Augen eines Menschen, der nicht geschlafen und zu viel Kaffee getrunken hat, blickte er Nelly und Gerolamo Privitera entgegen und bat sie, Platz zu nehmen.
»Wie weit sind Sie mit den Ermittlungen, Dottoressa? Was hat diesen Polizisten nur geritten, auf Bagnasco zu schießen! Mein Gott, so früh zu sterben, wegen einer solchen Lappalie ...«
»Was für eine Lappalie, Herr Direktor? Der mögliche Besitz von Drogen? Deren wahrscheinlicher Konsum? Die Gewalt gegen Signora Galli? Oder was meinen Sie mit Lappalie?«
Der Direktor schluckte, ließ sich aber nicht beirren.
»Das sind alles keine Vergehen, für die ein Minderjähriger in Italien die Todesstrafe bekommt, selbst wenn er sie allesamt begangen hätte, Drogenhandel noch dazu«, erwiderte er eisig.
Darauf hatte Nelly nur gewartet:
»Ist Ihnen in dieser Hinsicht etwas bekannt?«
»Wieso fragen Sie das nicht Ihren Sohn?«
Der Direktor sah sie herausfordernd an.
»Wissen Sie etwas über meinen Sohn? Wollen Sie mir das damit sagen?«
»Die Lehrer hatten einige ... ziemlich viele Schüler in Verdacht, deshalb haben wir die Drogenfahndung alarmiert.«
»Sie kennen mich seit vier Jahren und wissen, was ich beruflich mache. Finden Sie nicht, Sie hätten vielleicht mal mit mir sprechen sollen?«
»Nun ja, das wäre heikel gewesen wegen ... wegen Maurizio.«
»Der, wenn ich Sie richtig verstehe, einer der Verdächtigen ist.«
»Einige Lehrer hatten von häufigen Toilettenbesuchen während des Unterrichts berichtet und von engem Kontakt zu Habib, zumindest in der Vergangenheit.«
»Zu diesem marokkanischstämmigen Jungen? Aber hat der die Schule nicht vor ein paar Monaten verlassen?«
»Er wurde wieder zugelassen, in der Hoffnung, man könne ihm damit helfen. Es war klar, dass es sich um einen Risikokandidaten handelte.«
»Ein Risiko vor allem für die, die mit ihm in Kontakt kamen.«
Der Direktor lief rot an.
»Unsere Aufgabe ... unser Auftrag gebietet es uns ...«
Er hielt inne, weil sich Dottoressa Rosso keinen Funken für seinen Auftrag interessierte, zumindest nicht in diesem Moment.
»Geben Sie mir bitte Habibs Adresse. Und dann erzählen Sie mir alles, was Sie über ihn und die anderen wissen. Wir haben zwei Tote, Herr Direktor.«
Der Mann sah sie fragend an.
»Ja, zwei.
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