Schnee an der Riviera
Hauptwachtmeister Mandelli hat sich heute Morgen umgebracht. Und da aller guten Dinge nun mal drei sind ...«
Der Direktor zuckte zusammen, doch Nelly reagierte nicht darauf.
»Was wissen Sie über Habib, und welche Vermutungen oder Beweise gab es gegen ihn?«
»Beweise keine, sonst hätten wir die entsprechenden Behörden eingeschaltet. Aber Sie wissen ja, bei Minderjährigen ist das immer so eine Sache ... Habib ist gerade erst achtzehn geworden.«
Sie bedeutete ihm fortzufahren.
»Als er auf diese Schule kam, war er ein ganz normaler Junge. Mehr als normal, begabt, außergewöhnlich intelligent.«
Nelly kam ein Bild von Habib aus dem ersten Jahr am Gymnasium in den Sinn. Er war ziemlich oft bei ihnen zu Hause gewesen, um mit Mau und Franci Hausaufgaben zu machen. Er wohnte ebenfalls irgendwo in der Altstadt, allerdings nicht, wie sie und Mau, im »feinen«, begehrten und größtenteils sanierten Teil, sondern in den düsteren, trostlosen, heruntergekommenen carruggi , den engen Gassen, in denen die Nutten und Transvestiten in den Hauseingängen lehnten und man abends besser nicht allein unterwegs war.
Er war verdammt hübsch, erinnerte sie sich, nicht ganz so groß wie Mau (aber wer war schon so groß wie Mau?), schlank, gut gebaut, mit dunklem Teint, großen, mandelförmigen Augen, ebenmäßigen Gesichtszügen und lockigem Haar. Er sah aus wie ein neapolitanischer Straßenjunge aus längst vergangenen Zeiten, und er lachte gern. Mau hatte schon immer eine Schwäche für Immigranten gehabt, er war für weltweite Verbrüderung, gegen jedwedes Vorurteil. Doch im Jahr darauf hatte sich etwas verändert: Habib war noch ein- oder zweimal aufgetaucht und dann verschwunden. Auf Nellys beiläufige Frage hatte Mau widerwillig geantwortet.
»Der macht komisches Zeug.«
Und sie, die sich jetzt am liebsten selbst geohrfeigt hätte, hatte nicht weiter nachgehakt. Der Direktor sah sie fragend an, er hatte gemerkt, dass sie ihm nicht mehr zuhörte.
»Reden Sie bitte weiter. Ich bin ganz Ohr«, sagte Nelly hastig.
«Doch im zweiten Jahr hat er dann angefangen, den Unterricht zu schwänzen, er war lustlos, schlief auf dem Tisch ein« – stimmt, dachte sie, Mau hatte so etwas erzählt –, »und dann hat sich sein Verhalten gegenüber den Lehrern verändert, er wurde aufmüpfig, aggressiv, vollkommen desinteressiert. Doch Dottoressa Brocca, die ihn betreut, Sie wissen schon, die Italienischlehrerin«, Nelly nickte, »hat nicht lockergelassen und ihn immer unterstützt. Übrigens ist sie heute hier, sollten Sie mit ihr sprechen wollen. Sie weiß alles, was man über unsere Schüler wissen kann.«
Im Lehrerzimmer saßen sämtliche diensthabende Lehrer schweigend und verdrossen beieinander. Obwohl die Schule geschlossen war, bestand für sie Anwesenheitspflicht. Das hier waren schließlich keine Ferien! Feindselig, misstrauisch und miesepetrig sahen sie ihr entgegen.
»Noch miesepetriger als sonst«, dachte Nelly, die die frustriert heruntergezogenen Mundwinkel fast aller Lehrer ihres Sohnes nur zu gut kannte. Doch auf dem Gesicht von Dr. Brocca lag wie immer ein Strahlen. Kaum hatte sie Nelly gesehen, kam sie ihr lächelnd entgegen. Die Eiskruste, die sich in dieser vertraut feindseligen Umgebung um Nellys Herz gelegt hatte, taute ein wenig an.
»Guten Tag, Dottoressa Rosso. Wie geht es Mau?«
»Den Umständen entsprechend.«
»Franci und er waren so eng. Zwei ganz besondere Jungen.«
Nelly fühlte Dankbarkeit in sich aufsteigen, doch sie blieb sachlich.
»Was wissen Sie über Habib und sein Verhältnis zu Franci und meinem Sohn, Signora Brocca?«
Die Lehrerin seufzte.
»Habib ist ein Junge, der vollkommen sich selbst überlassen ist. Wo der Vater geblieben ist, weiß ich nicht, und die Mutter hält sich als Putzfrau über Wasser, das behauptet sie zumindest. Er hat eine vierjährige Schwester und fühlt sich als Mann im Haus. Seit er zwölf ist, lässt er sich von der Mutter gar nichts mehr sagen. Vor rund zwei Jahren ist er in schlechte Gesellschaft geraten. Ich glaube, er nimmt auch harte Drogen, und befürchte, dass er auf den Strich geht. In letzter Zeit trug er stets sündhaft teure Designerkleidung. Er geht zu einer Psychologin bei der Beratungsstelle, und Anfang des Jahres hatte ich ihn sogar so weit, zur Drogenberatung zu gehen, doch da ließ er sich nur selten blicken, irgendwann gar nicht mehr. Und ich glaube, er dealt.«
»Sie wollen damit sagen, er hat sich nicht auf Hasch und Marihuana
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