Schnee an der Riviera
ihr den Anruf durch, und kaum hatte sie abgenommen, wusste Nelly, warum. Es war Carlo.
»Ciao, Sonnenschein. Ich bin vor fünf Minuten angekommen.«
Wo? Wie? Doch Carlo war kein Mann der großen Worte. Und er liebte es, sie zu überraschen.
»Es ist fast sechs. Soll ich dich abholen, und wir gehen zusammen was essen?«
»In einer Stunde im Barbarossa ?«
»In Ordnung.«
Nelly liebte entschlossene, unkomplizierte Männer, und in dieser Hinsicht war Carlo wirklich unschlagbar. Ihr blieb noch nicht einmal Zeit, kurz nach Hause zu gehen ... oder doch, wenn sie sich beeilte, würde sie es schaffen.
»Valeria, ich bin weg. Wenn mich jemand sucht, bin ich jederzeit erreichbar.«
»Gut, Dottoressa.«
Valeria strahlte dermaßen zufrieden, dass man meinen konnte, sie sei diejenige, die an diesem Abend eine Verabredung hatte.
VIERTER TAG
Abend
In zehn Minuten war Nelly zu Hause, hatte in weiteren zehn Minuten geduscht und sich nach noch einmal zehn die Haare geföhnt. Erst bei der Auswahl der Garderobe kam sie ins Stocken: Sie hatte Carlo seit drei Monaten nicht gesehen – oder waren es vier? –, und nach so langer Zeit war der erste Eindruck schließlich entscheidend. Schwarz passte immer gut zu ihrem Haar, also die schwarze Seidenbluse und schwarze Stretchhosen, ja, das war die richtige Wahl. Nur schade, dass die Hose an ihren kräftigen Schenkeln so spannte, mehr als beim letzten Mal, verdammt. Aber die Bluse war ziemlich weit und verhüllte die kritischen Stellen. Dafür leuchtete der üppige Busen weiß aus dem weiten Ausschnitt. Bernsteinkette und reichlich Parfum. Rote Lippen, Lederjacke (die übliche), und los. Mit zehnminütiger Verspätung traf sie im Barbarossa ein und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie außer Atem war. Das Barbarossa war ihr Lieblingslokal zum Aperitif, aber manchmal auch für ein gutes, schnelles Abendessen. Seinen Namen verdankte es der Nähe zur Barbarossa-Mauer hinter der Porta Soprana, mitten im Herzen der Altstadt. Im Sommer konnte man draußen sitzen, doch noch war es dazu nicht warm genug. Nelly betrat das schmale Lokal mit dem langen Tresen und den hohen Tischen, an denen mehr oder weniger junge Leute saßen. Unglaublich, wie viele verschiedene Biersorten in den Regalen prangten! Ihre nussbraunen, sorgfältig geschminkten Augen suchten zwischen all den Fremden nach Carlos breitem, offenem Gesicht.
»Wo rennst du hin, siehst du mich denn nicht?«
Carlos kräftige Hand hielt sie am Arm fest, und Nelly verspürte einen angenehmen Schauder. Drei, vier Monate ohne einen Mann, und er ohne eine Frau, vielleicht. Wer wusste, ob er ...
»Ciao!« Sie fiel ihm um den Hals.
Der vertraute Geruch umfing sie, als hätten sie sich erst gestern voneinander verabschiedet.
»Wie geht’s meiner Karotte?«
»Jetzt schon viel besser«, murmelte Nelly und tat gleichzeitig mit Carlo einen tiefen Seufzer.
Das passierte oft. Sie mussten über ihre wiedergefundene Eintracht lachen.
»Was willst du trinken?«
»Einen Negroni.«
»Für mich eine Margarita.«
Zusammen mit den Aperitifs gab es eine Unzahl köstlicher Snacks. Carlo und Nelly bestellten noch zwei Bruschette und einen zweiten Aperitif, dann murmelte sie:
»Ich hab keinen Hunger mehr.«
»Ich dafür umso mehr«, raunte er zurück.
»Lass uns gehen.«
Auf dem Weg zu Nellys Wohnung sagten sie kein Wort. Es war ein genauso lauer, berückender Abend wie beim Besuch des Anatra azzurra , aber was für ein Unterschied jetzt, mit Carlo, der sie untergehakt hatte und neben ihr her ging. Er war ein wenig größer als sie, muskulös und kräftig gebaut, braungebrannt, mit schmalen, hellen Augen und dunklem, welligem, leicht weiß meliertem Haar. Nelly spürte die Erregung in sich aufsteigen und genoss jeden Augenblick dieses kurzen Spaziergangs, dieser freudigen Erwartung. Ihre Sorgen waren wie weggefegt, sie existierten nicht mehr. Es gab nur noch sie beide und das behagliche Bett, das zu Hause auf sie wartete.
Ohne Hast stiegen sie die Treppe hinauf und küssten sich dabei leidenschaftlich. Als die Tür hinter ihnen zufiel, hob Carlo sie hoch, ohne auf ihr scherzhaftes »Pass auf, dass du dir keinen Bruch hebst!« zu achten, und trug sie geradewegs ins Schlafzimmer. Wohlig gelöst von den zwei Negroni, ließ Nelly sich ausziehen. Sie hatten das Licht nicht angemacht, der Mond strahlte hell durch die Terrassentür, und der Jasmin tat sein Bestes, um die Luft mit seinem Duft zu erfüllen. Die Katzen sprangen
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