Schnee in Venedig
bandförmigen Blutergüsse an ihren Handgelenken, die darauf hindeuteten, dass man sie vor ihrem Tod gefesselthatte. Aber das matte Winterlicht, das in die Kabine fiel, schien mit den Farben auch die Wirklichkeit aus den Dingen gewaschen zu haben. Mit ihren geöffneten Augen, die bewegungslos ins Leere starrten, schienen der Mann und das Mädchen in einer eigenen Realität zu existieren, von der weder Bedrohung noch Schrecken ausging.
Der Mann lag im vorderen Teil der Bettnische, das Mädchen lag hinter ihm. Zwischen den Toten steckte ein zerknülltes Laken, unter dem die rechte Hand des Mannes bis zum Handgelenk verschwand. Sie schien irgendetwas zu umklammern, über ihr beulte sich der Stoff des Bettlakens aus.
«Hat irgendjemand die Leichen berührt?», fragte Tron.
«Nein.» Landrini schüttelte den Kopf. «Ich habe die Kabine sofort verschließen lassen und einen Matrosen zur Wache geschickt. Moosbrugger sagt, der Hofrat fährt öfter mit uns», fügte Landrini hinzu.
«Und die Frau?»
«Steht nicht auf der Passagierliste der ersten Klasse. Der Hofrat hat sie möglicherweise am Hafen kennen gelernt.»
«Am
Hafen
?» Tron gab sich keine Mühe, seine Überraschung zu verbergen. «Kommt das öfter vor, dass Passagiere der ersten Klasse sich Mädchen mit in die Kabine nehmen, die sie am Hafen kennen gelernt haben?»
Landrini zuckte die Achseln. «Das kann ich Ihnen nicht sagen, Commissario. Da müssten Sie Moosbrugger fragen.»
Tron beugte sich über das Bett und zog die Decke von Hummelhausers rechter Hand. Zum Vorschein kam ein zweiläufiger Derringer, wie Frauen und Spieler ihn gerne benutzen. Der Hofrat hatte die Waffe losgelassen, bevor der Tod eingetreten war, und Tron konnte sie vorsichtig unter den Fingern hervorziehen. Als er die Läufe nach unten klappte, sah er, dass die Kammern leer waren. Tron ließ dieLäufe des Derringers wieder einrasten und legte die Waffe zurück.
«Selbstmord?» Landrini hatte seine Stimme am Schluss des Wortes angehoben, aber es war unklar, ob es sich um eine Frage oder um eine Feststellung handelte.
Merkwürdig, dachte Tron, dass viele Menschen die Vorstellung, jemand habe sich selber getötet, weniger erschreckt als die Vorstellung, dass ein Mord geschehen ist. Weil sie sich einen Selbstmord friedlicher vorstellen als einen Mord? Das Mädchen sah nicht so aus, als wäre es einen friedlichen Tod gestorben.
Allerdings ergab die Vorstellung, der Hofrat könnte Selbstmord begangen haben, eine runde Geschichte, eine plausible Abfolge von Schuld und Sühne. Wahrscheinlich hatte sich das Mädchen noch freiwillig fesseln lassen. Aber dann waren die Dinge katastrophal aus dem Ruder gelaufen – Tron bezweifelte, dass der Hofrat die Absicht gehabt hatte, das Mädchen zu töten. Hatte er schließlich keinen anderen Ausweg mehr gewusst, als die Waffe gegen sich selbst zu richten?
Wenn die linke Hand des Hofrats nicht geöffnet gewesen wäre, hätte Tron die Flecken auf der Innenseite des Mittelfingers gar nicht gesehen. Im ersten Augenblick hätte er nicht einmal sagen können, was ihn an den Flecken so irritierte, aber dann begriff er. Es war der Umstand, dass sich die Flecken auf dem
linken
Mittelfinger des Hofrats befanden.
«Ich glaube nicht, dass es Selbstmord war», sagte Tron, indem er vor dem Bett in die Knie ging. «Aber vielleicht wollte jemand, dass es so aussieht.» Er zog ein weißes Taschentuch aus seinem Gehpelz und berührte es mit der Zungenspitze. Dann wischte er mit der feuchten Stelle über die Flecken auf Hummelhausers Finger. Das Taschentuch verfärbte sich.
«Sehen Sie?» Tron drehte sich um und streckte Landrini das Taschentuch entgegen.
«Was?»
«Den Fleck auf dem Taschentuch.»
«Was ist das?»
«Tinte», sagte Tron. «Hummelhauser hat mit der linken Hand geschrieben. Aber kein Linkshänder begeht Selbstmord, indem er sich mit seiner rechten Hand zweimal in die linke Schläfe feuert.»
Tron erhob sich und trat einen Schritt zurück. Der Hofrat lag auf dem Rücken, hart am Rand des Bettes. Die Weste und der Schalkragen waren ein wenig verrutscht, aber nichts an der Kleidung Hummelhausers war zerrissen oder schien durch Gewalteinwirkung in Unordnung geraten zu sein. Selbst seine Beine lagen ordentlich nebeneinander, fast parallel zur Bettkante ausgerichtet. Plötzlich hatte Tron das Gefühl, als läge der Eindruck des Inszenierten nicht nur an dem roten Samtvorhang, der ihn beim Anblick der Koje an eine Theatertragödie denken ließ.
Tron
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