Schneebraut
zwei Ortschaften, die gleich sind. Hier zu wohnen ist zum Beispiel ganz anders als in den Westfjorden. Ich kann dir auch nicht genau sagen, warum – aber es ist schwierig, das in Worte zu fassen –, aber jedes Dorf hat seinen eigenen Charakter.« Sie lächelte, wollte offensichtlich, dass er sich wohl fühlte. Er sollte noch oft an diese ersten gemeinsamen Stunden mit ihr denken. Nicht zuletzt, als er später zu verstehen versuchte, warum Hrólfur sich mit so viel väterlicher Liebe um dieses junge Mädchen gekümmert hatte, zumal er sich anderen gegenüber häufig barsch oder, deutlicher gesagt, sogar richtig unanständig benahm.
Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, etwas Vertrauenerweckendes.
Sie fragte ihn nach dem Studium, erzählte ihm von ihrem Traum, das Abitur noch nachzuholen, zur Uni zu gehen – vielleicht in ein oder zwei Jahren; sie wollte zuerst einmal sammeln – Geld sowie Erfahrung. »Vielleicht gehe ich an die Uni in Akureyri, vielleicht auch in den Süden – ich glaube allerdings, dass ich mich in einer Großstadt wie Reykavík nur schwer zurechtfinden könnte. Ich glaube nicht, dass ich mich dort wohl fühlen würde, um ehrlich zu sein.« Er hatte gleich von Anfang an mit ihr gesprochen wie mit einer alten Freundin; er erzählte ihr von der Wohnung in der Öldugata, wie wohl er sich in der Stadtmitte fühle. Sie hörte ihm aufmerksam zu. Er erzählte ihr aber nicht alles. Erwähnte weder Kristín noch die Probleme mit ihr – wusste aber selber nicht genau, warum. Vielleicht wollte er sie damit nicht belasten, vielleicht steckte auch etwas anderes dahinter.
Es fiel ihm allerdings leicht, mit ihr über seine Schwierigkeiten mit der Dunkelheit und der Ausgegrenztheit zu sprechen, wie schwierig es sei, sich daran zu gewöhnen, und wie der Schnee und die Berge ihm manchmal zusetzten. Sie schien ihn gut zu verstehen. Sie hörte zu, versuchte, ihm gute Ratschläge zu erteilen. Lächelte hin und wieder.
Dennoch gab es da etwas an ihr, das er nicht verstand. Klar, sie lebte weit entfernt von ihrer Familie, doch auf ihrem Gesicht lag eine tiefere Sorge, die sich nicht nur mit dieser Tatsache erklären ließ. Jedem Lächeln folgte eine winzig kleine Schwere tief in ihren Augen.
»Bleibst du an Weihnachten hier?«, fragte Ari, als sie eine Weile über Gott und die Welt geplaudert hatten.
»Ja, Mama und Papa werden aus dem Westen kommen und über die Feiertage hierbleiben. Sie wollen unbedingt bei mir sein. Mama wird dann etwas Gutes kochen, denn es gehört nicht wirklich zu meinen Stärken, einen Weihnachtsbraten zuzubereiten.«
»Tja, zu meinen auch nicht«, sagte Ari bescheiden, »aber ich werde dennoch versuchen, etwas Gutes zu kochen.« Er nahm einen kleinen Schluck vom Tee, der immer noch brennend heiß war. »Ich habe nämlich Dienst an Heiligabend. Bin alleine auf der Wache. Ich nehme den Weihnachtsbraten einfach mit und ein paar gute Bücher.«
»Das muss ja schrecklich sein.«
Ari wusste ihre Ehrlichkeit zu schätzen.
»Ja. Es ist schrecklich, aber ich habe eigentlich keine Wahl.«
»Kommen deine Eltern an den Festtagen auch mal in den Norden?«
Eine ganz natürliche Frage. Ari war es nicht gewohnt, sich anderen gegenüber als Waise zu outen. Er ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen.
»Nein … ich habe meine Eltern schon vor langem verloren.« Er schaute ihr in die Augen, senkte dann aber sofort den Blick.
Sie starrte tief beschämt in ihre Kaffeetasse. »Entschuldige.« Ihre Stimme klang aufrichtig. »Entschuldige. Ich hatte keine Ahnung, dass …«
»Ist schon in Ordnung.«
Fügte dann hinzu: »Man gewöhnt sich daran.«
»Wirklich?«, fragte Ugla überrascht.
»Wie bitte?«
»Gewöhnt man sich wirklich daran?«, fragte Ugla.
»Ja … doch, das kann ich schon so sagen«, antwortete Ari. »Aber es braucht seine Zeit, ich habe lange gebraucht, um mein Gleichgewicht wiederzufinden – das ist nicht einfach über Nacht passiert. Aber doch, es wird mit den Jahren erträglicher. Man muss einfach weitermachen, sein Leben leben …«
Ugla schwieg.
»Warum fragst du?«
Sie schwieg noch eine Weile, schaute unverwandt in ihre Kaffeetasse, als ob diese die Antwort zu allen möglichen Fragen verborgen hielt, hob dann den Blick und sagte. »Ich habe … meinen Freund vor ein paar Jahren verloren.« Dann fügte sie hinzu: »Darum bin ich hierhergezogen.«
Ari wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er war es so sehr gewohnt, in der Rolle des Leidenden zu sein, desjenigen,
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