Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ragnar Jónasson
Vom Netzwerk:
was sie in ihm gesehen hatte, dem Vierzigjährigen an der isländischen Botschaft in Schweden. Als sie sich kennenlernten, hatte er dort seit vier Jahren gearbeitet und verfügte über einen tadellosen Leumund. Er vergnügte sich gerne an Wochenenden und gab öfter einen aus, er, der betuchte Diplomat aus Island.
    Sie war gerade mal achtundzwanzig Jahre alt und faszinierte ihn derart, dass er beinahe den Verstand verlor. Geboren in Stockholm, hatte sie kurz zuvor eine jahrelange Beziehung mit einem Mann beendet, mit dem sie einen sechsjährigen Sohn hatte, mit dem sie sich aber das Sorgerecht für den Sohn teilte. Sie war nicht gerade begeistert von der Mutterrolle und zögerte Jahr für Jahr eine definitive Antwort hinaus, ob Úlfur und sie noch ein Kind haben sollten. Schob es so lange hinaus, bis er es aufgab, sie zu fragen und es ohnehin zu spät war.
    Es war ihm nie wirklich gelungen, ihrem Sohn ein Vater zu sein – der unbekannte Isländer, der so lange gebraucht hatte, um sich ein gutes Schwedisch anzueignen; er hatte nie einen besonders guten Draht zu dem Jungen gehabt. Manchmal überlegte er, ob er mehr Druck in der Kinderfrage hätte ausüben sollen. Aber er war auch stets so beschäftigt gewesen bei der Arbeit, arbeitete sich langsam, aber stetig hoch.
    Und jetzt war er allein. Allein in den menschenleeren Straßen von Siglufjörður unterwegs, um die frische Morgenluft einzuatmen; ein schneebedecktes Dorf, das hübsch anzusehen war. Er wohnte in der Suðurgata, im Haus seiner Eltern. Sein Vater war schon lange tot. Úlfur war gerade mal vier Jahre alt gewesen, als der Vater im Alter von sechsundzwanzig Jahren starb. Er erinnerte sich nur undeutlich an ihn, es war, als ob er seine Erinnerungen mit dem Meer verband, der ruhigen und stillen See an einem Schönwettertag. Das Wetter hingegen war alles andere als still gewesen, als sein Vater zu seiner letzten Fahrt in See gestochen war. Das Boot war groß gewesen, hatte vertrauenerweckend ausgeschaut und schon allerlei ertragen. Der Vater von Úlfur und einige seiner Freunde hatten sich seit vielen Jahren abgewechselt, das Schiff zu bemannen, manchmal war es in schwere See geraten, es war aber immer wieder nach Hause gekommen. Nur an diesem Wintertag war etwas anders. Das Boot war in schwere Seenot geraten, schaffte es aber gerade noch, wieder im Hafen anzulegen. Zwei Mann der Besatzung waren jedoch über Bord gegangen, sie kamen nie wieder nach Hause – die Trauer war groß im Dorf. Ein vier Jahre alter Junge weinte um seinen Vater.
    Deswegen war es ihm nie in den Sinn gekommen, zur See zu fahren. Wenn möglich vermied er Schiffsfahrten und wollte auch nicht in der Fischindustrie arbeiten. Siglufjörður war hingegen kein Ort für einen jungen Mann, der das Gold – oder das Silber – des Meeres nicht zu schätzen wusste. Er zog deshalb bei der ersten Gelegenheit nach Akureyri, machte das Abitur und fuhr dann nach Süden. Der Fjord zu Hause hatte aber stets eine große Anziehungskraft auf ihn ausgeübt, trotz der Trauer, die das Meer und die Brücke im Hafen, wo sein Vater zum letzten Mal festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, in ihm auslösten.
    Úlfurs Mutter hatte all die Jahre in Siglufjörður verbracht. Allein in dem großen Haus, nachdem Úlfur weggezogen war. Er hatte sich manchmal schlecht gefühlt, weil er sie im Stich gelassen hatte. Während seiner Zeit auf dem Gymnasium hatte er oft in der Dämmerung gesessen und im Schein seiner kleinen Lampe in den Schulbüchern gelesen, und dann an seine Mutter denken müssen, die alleine zu Hause an diesem gewaltigen Fjord saß, wo die Kräfte der Natur so grausam sein konnten. Sie beklagte sich nie; ermunterte ihn eher noch dazu wegzuziehen, sein eigenes Leben zu leben. Sein eigenes Glück zu suchen.
    Glück? Hatte er ein glückliches Leben geführt? Er dachte auf seinen Spaziergängen durch das Dorf oft darüber nach. Er war es gewohnt, jeden Tag eine beträchtliche Strecke zurückzulegen und über vergangene Jahre nachzudenken. Er war jetzt in das Alter gekommen, in dem es, wenn man so wollte, sogar passte, sich hinzusetzen und etwas über sein Leben zu schreiben. So eine Art Erinnerungen. Doch wer würde schon Interesse daran haben, etwas über sein Leben zu lesen? Es kam für ihn nicht wirklich in Frage, etwas Derartiges zu Papier zu bringen. Er benutzte seine Spaziergänge dafür, um alte Erinnerungen aufzufrischen; schrieb seine Biographie einfach in die Wolken.
    Seit er nach Norden gezogen

Weitere Kostenlose Bücher