Schneebraut
dachte an seinen Vater, den das Meer an sich gerissen hatte.
Dann stellte er fest, dass er mit dem Fjord und dem Meer Frieden geschlossen hatte.
Da war die Zeit gekommen, wieder nach Hause zu ziehen.
Die Meldung stand auf der Titelseite der Sonntagsausgabe, die auf dem Kaffeetisch auf der Wache lag; die Zeitung war erst am Montag nach Siglufjörður gekommen – die schriftliche Bestätigung dessen, was alle ohnehin schon wussten; die Bestätigung von Hrólfurs Schicksal.
Schriftsteller verstorben
Es war keine reißerisch aufgemachte Schlagzeile, ihr folgte ein geschmackvoll eingerahmter Artikel weiter unten auf der Titelseite.
Der Dichter Hrólfur Kristjánsson ist im Alter von einundneunzig Jahren am Freitagabend in Siglufjörður verstorben. Hrólfur wurde im Jahre 1941 schlagartig landesweit bekannt, als er im Alter von vierundzwanzig Jahren seinen Roman
Nördlich der Heide
veröffentlichte. Das Buch gilt als ein Meisterwerk der isländischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und leitete eine große Wende ein; vom Stil her ist es eine romantische Geschichte mit aktuellen Bezügen, das hatte es bis dahin in dieser Form noch nicht gegeben. Die Liebesgedichte im Buch, die kummervollen Lindagedichte, die der weiblichen Protagonistin gewidmet sind, haben schon seit langem einen festen Platz in der isländischen Literatur. Hrólfur wurde am 10 . August 1917 in Siglufjörður geboren und absolvierte das Abitur am Gymnasium von Reykjavík im Jahre 1937 . Im Anschluss daran begann er ein Studium der Geschichte und später der Literatur an der Universität Kopenhagen. Er kehrte 1940 mit der bekannten ›Petsamo-Fahrt‹ nach Island zurück, damals wurden zahlreiche Isländer nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aus Petsamo in Finnland wieder in die Heimat gebracht. Hrólfur erhielt für sein Werk zahlreiche Preise, sein Roman wurde um die Mitte des letzten Jahrhunderts in den
USA wie auch in zahlreichen Ländern Europas veröffentlicht, wo er viel Kritikerlob erhielt und sich großer Beliebtheit bei der Leserschaft erfreute. Später veröffentlichte Hrólfur Gedichtsammlungen und einen Erzählungsband, gab aber 1974 seine schriftstellerische Tätigkeit auf. Die letzten Jahrzehnte hat er in Siglufjörður gelebt. Die isländische Präsidentin verlieh Hrólfur im Jahre 1990 den Falkenorden. Zudem wurde ihm die Ehrendoktorwürde sowohl der Universität Island wie auch der Universität Kopenhagen zuerkannt. Hrólfur war nicht verheiratet und hinterlässt keine Kinder.
Der große Schriftsteller verstarb am letzten Freitagabend an den Folgen eines Unfalles während der Probe des Theatervereins von Siglufjörður, dessen Vorstand er seit Jahrzehnten war.
»Er hat mich angerufen«, sagte Tómas.
Ari schaute auf.
»Was?«
»Er hat mich angerufen, der Journalist – am Samstag. Sie haben es schnell erfahren. Er wollte wissen, ob der Alte betrunken gewesen sei.« Tómas kratzte sich am Kopf und hob eine seiner dicken Augenbrauen, so dass sein Gesicht einen schrecklich dramatischen Ausdruck annahm, während die andere Braue ruhig an ihrem Platz verharrte.
»Und was hast du gesagt?«
»Er wusste es bereits, irgendjemand hatte es ihm gesteckt. Aber ich habe nichts gesagt, habe nichts bestätigt. Wir sollten den alten Mann in Frieden ruhen lassen.«
»Bist du dir immer noch sicher, dass es ein Unfall war?«
»Ja, wir sollten aus einer Mücke keinen Elefanten machen.«
»Ich habe gehört, dass es am Freitag dort einen Streit gegeben hat.«
»Was willst du damit sagen?«
»Wusstest du nichts davon? So wie ich gehört habe, haben Úlfur und Hrólfur sich wie Hund und Katze gestritten.«
Tómas schien ganz erstaunt zu sein.
»Nein. Úlfur hat das nicht erwähnt.« Er machte einen nachdenklichen Ausdruck. »Das scheint so üblich zu sein, so kurz vor der Premiere – temperamentvoll, diese Künstler.«
Dann fügte er hinzu: »Wieso weißt du davon?«
»Ich habe gestern davon erfahren«, sagte Ari und hoffte insgeheim, dass er nicht mehr dazu sagen müsste; es war unnötig, dass Tómas erfuhr, dass er mit Ugla über polizeiliche Angelegenheiten sprach.
»Sollten wir dem nicht nachgehen?«, fragte er.
»Was nachgehen? Es war nur ein Unfall – und ich werde die Dorfgemeinschaft
nicht
gegeneinander aufbringen.« Tómas schlug mit der Faust auf den Tisch.
Damit war die Sache erledigt.
»Ich wollte über Mittag zum Krafttraining gehen, wenn das in Ordnung ist«, sagte Ari. Tómas schien
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