Schneebraut
unterschiedliche Richtungen – sie waren so traditionell, so konservativ und liebevoll. Er ertrug diese ganze Zuneigung nicht, sie erstickte ihn und war ihm unangenehm. Er zog bei der ersten Gelegenheit von zu Hause aus, bekam einen Job in Aarhus, eine Schwarzarbeit, und ergriff die Gelegenheit nur zu gerne; ließ seine Eltern in der kleinen Wohnung in Kopenhagen zurück.
Karl hatte Glück gehabt mit Linda. Ihre Eltern trennten sich mit Pauken und Trompeten, sie geriet in den ganzen Scheidungsstrudel und landete schließlich in Karls Armen. Sie hatte im Gegensatz zu ihm das Abitur gemacht und sich anschließend zur Krankenschwester ausbilden lassen. Das hatte sie beide gerettet; sie hatte in Krankenhäusern in Aarhus und Reykjavík gearbeitet und war nun im Krankenhaus von Siglufjörður angestellt. Karl war hingegen arbeitslos gewesen, seit sie in den Norden umgezogen waren. Er hatte aber im vergangenen Sommer und Herbst viel Zeit damit zugebracht, ein altes Fischerboot herzurichten, das als kleines Schulschiff für die Grundschule benutzt werden sollte. Ein alter Kumpel hatte ihm erzählt, dass die Schule nach einem guten Handwerker suche, der diese Aufgabe als Freiwilliger übernehmen könnte; Karl zögerte keinen Moment – er hatte sich schon immer dafür eingesetzt, egal, was sonst noch anstand, etwas mit oder für Kinder zu tun; er hatte bereits in Dänemark solche Freiwilligenarbeit übernommen. Er wusste eigentlich selbst nicht genau, warum … wollte vielleicht seinen Beitrag dazu leisten, dass die Kinder so lange wie möglich ihre Unschuld bewahren konnten. Und dennoch wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, sich selbst Kinder zu wünschen.
Abgesehen von der Arbeit am Fischerboot übernahm er ab und zu bezahlte Kleinarbeiten, wenn es etwas zu tun gab. Sämtliche Einnahmen aus solchen Einsätzen landeten auf dem Spieltisch.
Er fühlte sich wie ein Auto im Leerlauf, wenn er nicht am Spieltisch saß; erst wenn er dort saß, lief er zur Höchstform auf. Das Blut schoss dann blitzgeschwind durch seine Adern, nichts anderes zählte mehr – weder Linda noch Sieg oder Verlust. Ein Verlust am Spieltisch war genauso spannend wie ein Sieg, obwohl er am nächsten Tag den größeren Kater verursachte. Es war zwar schlimmer, im Minus zu landen, Schulden anzuhäufen, doch es bereitete ihm keine schlaflosen Nächte. Es war einfach ein praktisches Problem, das es zu lösen galt, um wieder an den Spieltisch zu kommen.
Er überlegte sich manchmal, was die Zukunft wohl bringen würde. Linda wollte unbedingt wegziehen, aber er fühlte sich hier ganz wohl; in dem Dorf, in dem er aufgewachsen war, in dem er Freunde und Bekannte hatte. Hier war er sogar ein Star auf der Theaterbühne, verdammt nochmal.
Es schien niemand zu Hause zu sein, als er die Wohnungstür an der Þormóðsgata aufschloss. Er warf einen Blick in das Wohnzimmer. Keiner da.
Das Wohnzimmer war überaus bunt, die meisten Möbel waren bereits in die Jahre gekommen; ein goldfarbenes, abgewetztes Sofa mit einigen Zierkissen, ein kleiner Sofatisch, ein alter Bücherschrank; kleine Untersätze in allen Regenbogenfarben schmückten die eine Wand, und oberhalb des Sofas hing eine Landschaftsmalerei aus Dänemark. Ein kleiner Fernseher befand sich im Raum, davor stand ein alter und müder Ohrenbackensessel aus Leder; seitlich vom Sessel ein kleiner und unscheinbarer Holztisch, auf dem eine alte Vase stand, wahrscheinlich aus den sechziger Jahren, ein Erbstück aus Lindas Familie.
Karl ging ins Schlafzimmer und zündete das Licht an. Linda lag schlafend im Bett, erwachte aber von der Helligkeit.
Das Bett war alt und abgewetzt, wahrscheinlich aus den frühen siebziger Jahren; es hatte bereits in der Wohnung gestanden, als sie diese mieteten. Oberhalb des Bettes hingen ein kleines Jesusbild und zwei Wandlampen, die genau so alt zu sein schienen wie das Bett.
»Steh schon auf. Ich habe Schellfisch gekauft.«
24. Kapitel
Siglufjörður,
Mittwoch, 14 . Januar 2009
Der kleine Junge durfte nach dem Essen nach draußen gehen, um im Schnee zu spielen – dem wunderbaren Schnee, dem Zauberland, in dem alles möglich war. Zur Abendbrotzeit hatte es endlich zu schneien aufgehört, so dass seine Mama ihm erlaubte, draußen zu spielen.
Eine kleine Katze mit einem Glöckchen am Halsband, die sich in die Abendstille hinausgeschlichen hatte, lockte ihn in den nächsten Garten hinüber – von wo er den Weg wieder nach Hause finden würde – und dann durch ein kaltes
Weitere Kostenlose Bücher