Schneebraut
seinem Blut im Schnee liegen zu lassen?
Er war sich ziemlich sicher, dass sie tot war. Einschnitte auf der Brust und auf einem Arm.
Verletzungen, weil sie sich verteidigt hatte?
Sie trug eine Jeans, sonst nichts. Barfuß; oben gänzlich entblößt.
Die Waffe?
Das Messer?
Ari sah sich um und entdeckte, dass auch Tómas sich nach der Tatwaffe umzusehen schien.
Auf den ersten Blick war nichts zu sehen.
»Sollen wir die Spurensicherung aus dem Süden anfordern?« Ari hatte gerade die Grundausbildung in der Untersuchung eines Tatorts durchlaufen; eigentlich reichte dieses Training gerade einmal aus, dass man lernte, was man
nicht
tun sollte – wie man die Beweisstücke nicht behandeln sollte. Doch das hier war kein gewöhnlicher Tatort – an erster Stelle stand, das Leben der jungen Frau zu retten, falls sie denn noch lebte, und zudem machte der Schnee es ihnen nicht gerade leicht.
»Ich glaube, das bringt nichts«, antwortete Tómas mit sorgenvoller Miene, »aber wir müssen sofort Hlynur dazu rufen. Er muss den Tatort untersuchen, sowohl drinnen – falls der Angriff dort stattgefunden hat – wie auch hier draußen. Schieß so viele Fotos, wie du nur kannst, solange noch irgendwelche Spuren im Schnee sichtbar sind.«
Ari nickte. Hlynur brauchte wahrscheinlich nicht lange, um herzukommen – es war ziemlich unwahrscheinlich, dass er das Dorf bei diesem Wetter verlassen hatte. Wenn nicht sogar unmöglich.
»Wir fahren auf die Wache, sobald Hlynur kommt«, sagte Tómas.
Sie beobachteten die Sanitäter aus sicherer Entfernung, warteten auf Informationen. Ari nahm die kleine Kamera aus der Tasche und schoss ein paar Bilder.
Tómas trat näher zu Ari heran und sagte so leise, wie es unter diesen Umständen möglich war, da die dicken Schneeflocken alle Geräusche verschluckten: »Wir müssen ihn bitten, mitzukommen.«
»Bitten …?«
Oder verhaften?
»Wir bitten ihn zuerst höflich, wir brauchen ihn für das Protokoll. Soviel ich weiß, waren sie nicht immer …« – er zögerte – »… nicht immer in allem einer Meinung.«
»Puls!«
Ari zuckte zusammen, trat näher heran.
»Ich spüre einen Pulsschlag!« Die Sanitäter hoben Linda auf die Tragbahre.
»Lebt sie?«, fragte Ari verwundert.
»Ein sehr schwacher Puls, aber ja – sie lebt noch.«
25. Kapitel
Siglufjörður,
Mittwoch, 14 . Januar 2009
»Du musst mit uns kommen. Wir müssen ein Protokoll erstellen.« Tómas war bestimmt, aber nicht unfreundlich. Karl stand still und verfolgte, wie Linda in die Ambulanz geschoben wurde.
»Ja, klar. Ich komme.«
»Dürfen wir die Schlüssel zur Wohnung haben, um zu schauen, ob es dort Indizien gibt?«
Er nickte mit dem Kopf. »Sie ist nicht verschlossen, es gibt dort nichts zu sehen – ich bin vorhin reingegangen, um zu sehen, ob jemand dort sei.«
»Setz dich schon mal in den Wagen.« Ari zeigte ihm den Weg.
Die Ambulanz war losgefahren; das Blaulicht erhellte den Schnee. Der hintere Garten in der Þormóðsgata machte nicht mehr länger den Anschein, der Ort eines Verbrechens zu sein, es schneite unentwegt, und der Schnee schien alles unter sich zu begraben. Linda war weg, Karl war weg, das Blut war kaum noch sichtbar. Der Garten gab sich alle Mühe, wieder zu einem gewöhnlichen Garten hinter einem Haus an einer ruhigen Straße in einem kleinen Dorf im Norden zu werden.
Hlynur tauchte nur wenige Minuten später auf.
»Ari und ich gehen auf die Wache«, sagte Tómas; seine Stimme war wie schon vorhin nur undeutlich im Schneetreiben zu vernehmen. »Kalli kommt mit uns mit. Du musst den Tatort untersuchen … so gründlich wie nur möglich. Wir müssen versuchen, die Waffe zu finden. Wir haben vorhin keine Informationen über die Verletzungen erhalten, sie haben versucht, sie zu reanimieren. Ich vermute trotzdem, dass es ein Messer gewesen ist. Halt die Augen offen. Wirf auch einen Blick ins Haus; falls irgendetwas darauf hindeutet, dass jemand drin war, dann müssen wir die Wohnung gründlich durchsuchen.«
Es bereitete Ari Mühe, die Augen im Schneetreiben offen zu halten, die Schneeflocken waren dick – nun fielen sie nicht vorsichtig zur Erde wie so oft zuvor, sondern trafen diejenigen mit voller Kraft, die es wagten, draußen im Freien zu stehen.
Ari setzte sich neben Karl auf den Rücksitz des Wagens; Tómas fuhr los. Im Auto herrschte Schweigen.
Die Polizeiwache bot einen willkommenen Schutz vor dem stürmischen Wetter. Ein sicheres, bekanntes Umfeld. Ari bemerkte erst jetzt, wie
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