Schneebraut
zwei Männern an einem öffentlichen Ort würde es nicht lange dauern, bis es sich verbreiten würde, wie Ari gerade aus eigener bitterer Erfahrung gelernt hatte.
»Wie fühlst du dich hier im Dorf?«, fragte Karl.
»Ganz gut, danke dir.« Was vielleicht nicht ganz den Tatsachen entsprach, doch das war nicht der Moment für Zugeständnisse. Ari fühlte sich im Moment ganz in Ordnung, da das Wetter sich gerade etwas beruhigt hatte – er versuchte, nicht an die engen Tunnels zu denken, wie wenig es brauchte, bis sie geschlossen wurden; versuchte, nicht an den Bergweg zu denken, die abschüssigen Berghänge … Stattdessen dachte er nur an Hrólfur – den Unfall. Den Unfall? Er ließ seiner Phantasie freien Lauf.
Karl lächelte; verengte die Augen. »Daran gewöhnt man sich.«
»Wohnst du denn schon lange hier?«
»Ich bin hier geboren und aufgewachsen – bin aber erst vor kurzem wieder hierhergezogen. Es ist nirgends besser als hier.« Er schwieg einen Moment. »Nirgends ist es besser.«
Ari kam erneut dasselbe Wort in den Sinn, wie eben gerade schon – vertrauenswürdig. Dieser Mann hatte irgendwie etwas Freundliches an sich.
»Ich habe vernommen, dass ihr Hrólfurs Tod genauer untersucht …« Karl flüsterte beinahe. »Ist er ermordet worden?«
»Was darf’s denn sein?« Der Fischverkäufer schaute Ari gutmütig an.
»Nein – es war nur ein Unfall«, sagte Ari zu Karl.
Nur ein Unfall.
***
Karl hatte nie vorgehabt, wieder heim nach Siglufjörður zu ziehen – er hegte in sich eigentlich keine Gefühle dem Ort gegenüber. Es bot sich dann aber einfach an, hierher zu ziehen, als Linda und er die Wohnung in Kópavogur verkaufen mussten und die Geldeintreiber immer noch auftauchten – die Geldeintreiber, die die Spielschulden einforderten. Sie gaben sich nicht zufrieden, bis sie etwas für ihre Bemühungen bekamen, und wenn es nichts einzutauschen gab, verabschiedeten sie sich meistens mit roher Gewalt.
Es gab nur wenig, vor dem Karl Angst hatte, doch Schmerzen ertrug er nur schlecht – ertrug sie eigentlich gar nicht. Eines Abends, nach einem solchen unerwarteten Besuch von einem Geldeintreiber, der mit einigen harten Angriffen endete, hatte er beschlossen, in den Norden zu ziehen. Er wusste, dass er nicht immer auf sein Glück und seine eigene Stärke vertrauen konnte, das nächste Mal würden sie zu zweit oder sogar bewaffnet kommen. Er vermutete dagegen, dass sie ihn kaum bis Siglufjörður verfolgen würden, doch er ließ zusätzlich einige Zeit verstreichen, bis er seinen Wohnsitz schließlich dort anmeldete. Es handelte sich nicht um eine immense Schuld, eine halbe Million – es war schon schlimmer gewesen.
Er hatte Linda danach versprochen, mit dem Spielen aufzuhören. Sie war ausgerastet, als sie von den Pokerabenden, die immer mittwochs stattfanden, Wind bekommen hatte, gab aber nach, nachdem er sie davon überzeugt hatte, dass mit keinem anderen Einsatz gespielt wurde als lediglich mit Bier und Spielgeld. Das Bier – der Alkohol – war nie ein Problem gewesen, das Spiel hingegen war seine Schwäche.
Er bereitete ihm Spaß, alte Schulkameraden zu treffen, die wenigen, die aus seinem Jahrgang noch im Dorf geblieben waren. Sie trafen sich einmal in der Woche nachmittags bei einem von ihnen, der Single war, und spielten Poker. Das war erfrischend, eine willkommene Abwechslung – nicht viel mehr als das.
Linda hatte selbstverständlich keine Ahnung von der anderen Spielertruppe, die sich nur unregelmäßig traf, dort wurde um Geld gespielt – öfter auch mal um hohe Einsätze. Karl war mit dabei, wann immer er konnte – wenn er etwas besaß, um mitzuhalten, manchmal tauchte er auch auf gut Glück mit leeren Hosentaschen auf, bekam schon mal etwas geliehen, manchmal aber auch nicht.
Es waren jetzt vierzehn Jahre vergangen, seit er Linda in Dänemark kennengelernt hatte. Erst vor einem halben Jahr hatten sie sich entschlossen, gemeinsam nach Island zu ziehen. Ihr Vater war Däne, ihre Mutter Isländerin, und sie hatte in Island gelebt, bis sie zwölf war, bevor ihre Familie nach Dänemark umgezogen war. Karl hatte selbst seine Kindheit und Jugend auf Island verbracht – er war siebzehn, als seine Eltern in der zweiten Hälfte 1983 beschlossen, von Siglufjörður nach Dänemark zu ziehen. Sie wohnten in einer heruntergekommenen Wohnung in einem Vorort von Kopenhagen, und Karl zog später nach Aarhus, wo sich Lindas und seine Wege kreuzten.
Sein Weg und der seiner Eltern führten in
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