Schneebraut
die Schulter, sah ihn das Messer aus der Wunde ziehen. Sie schloss die Augen und konnte deswegen auch den nächsten Stoß nicht kommen sehen. Und dann sah sie nie wieder etwas.
***
Er hatte recht gehabt. Er spürte nichts. Keine Reue. Vielleicht ein wenig Wut darüber, dass er ihr erlaubt hatte, einen Fluchtversuch zu unternehmen – und dann wäre er gerne noch dahintergekommen, was sich im Safe befand. Aber das spielte keine Rolle mehr, was jetzt zählte, war, abzuhauen.
Er schlich sich vorsichtig in den dunklen und warmen dänischen Frühlingsabend hinaus und verschwand zwischen den stattlichen Häusern des Außenbezirks, wo niemand jemals etwas bemerkte – da, wo auch niemand etwas bemerken wollte.
39. Kapitel
Siglufjörður, Mittwoch, 21 . Januar 2009
Karl starrte Ari schweigend an.
»Es wurde nie jemand für diesen Mord festgenommen«, sagte Ari schließlich, ohne Karls Blick auszuweichen.
Karl zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich weiß nicht, was mich das eigentlich angeht.« Setzte das Messer erneut bei der Zitrone an und schnitt den Rest in Schnitze.
»Du bist geschickt im Umgang mit dem Messer.«
»Ich habe jung gelernt.« Er grinste. »Du kannst mir nichts anhaben, verfluchter Bengel aus dem Süden, bist ja noch grün hinter den Ohren. Kommt hierher und will uns Angst einjagen. Das wird dir nicht gelingen.«
Die Stimme war entschlossen.
Das werden wir ja sehen.
Ari hatte bisher recht gehabt. Da war er sich sicher, auch wenn Karl unterschiedlich gewillt war, die eine oder andere Behauptung mit seinen eigenen Worten zu erläutern. Und er hatte es noch vor sich, eine Vermutung anzustellen. Wollte ihn erst einmal einfach erzählen lassen.
»Wann bist du denn weggezogen?«
»Nach Dänemark? 1983 . Ich wünschte, ich wäre nie zurückgekommen.«
»Im Sommer?«
»Nein, im Herbst.«
»Ich habe gehört, dass ihr es schwer hattet, hier in Siglufjörður – früher.«
»Was willst du damit sagen?«
»Deine Eltern hatten keinen großen finanziellen Spielraum, nicht wahr?«
»Lass meine Eltern aus dem Spiel! Sie haben nie etwas gehabt, konnten mir nie etwas geben außer ihrer verdammten Liebe.«
»Trotzdem konntest du dir damals dieses Auto leisten … den Geländewagen. Den Wagen, den Annas Vater heute besitzt.«
Eine besorgte Miene huschte über Karls Gesicht, zum ersten Mal während dieses Besuchs.
»Was zum Teufel geht dich das an?«
»Ein phantastischer Wagen«, bestätigte Ari, ohne das Auto gesehen zu haben.
»Ja, das war ein einzigartiger Wagen. Es war elend, ihn verkaufen zu müssen.«
»Warum seid ihr umgezogen?«
»Das geht dich nichts an.« Dachte über etwas nach und fügte dann hinzu: »Einfach, um Arbeit zu finden, mein Vater bekam hier keine Arbeit.«
»Bist du sicher, dass das der einzige Grund war?«
»Was willst du damit andeuten?« Er stand aus dem Sessel auf, hielt noch immer das Messer in der Hand. Hatte die Zitrone schon längst vergessen.
»Wie konntest du dir solch ein teures Auto leisten?«
Karl schwieg.
»Die alte Dame bezahlte bestimmt nicht so gut.«
Karl erbleichte und antwortete nichts.
»Die alte Dame – Pálmis Mutter, hast du nicht für sie gearbeitet? Ich habe gehört, dass du verschiedene Jobs für sie erledigt hast; aufgeräumt, Schädlinge entfernt … aber als ich genauer nach dem Letztgenannten gefragt habe, ist Verschiedenes ans Licht gekommen. Die Frau, mit der ich geredet habe, hat damals im Supermarkt gearbeitet und konnte sich daran erinnern, dass du einmal Rattengift gekauft hast – sie hat nebenbei erwähnt, dass du es gebraucht hast, weil du anscheinend die Aufgabe übernommen hattest, für die alte Dame Ratten zu töten.« Ari machte eine Pause und beobachtete Karl, wie er sich im Sessel wand.
Endlich
. »Pálmi hat mir erzählt, dass seine Mutter den Banken nie vertraut habe, dass sie das Geld bei sich zu Hause aufbewahrt hätte … und als sie starb, reichte es nicht einmal für die Beerdigung. Findest du das nicht seltsam?«
Ari wartete. Karl stand auf. Er hielt das Messer nach wie vor in der Hand, stand aber still.
»Kann es nicht sein, dass sie dir anvertraut hatte, dass sie das Geld zu Hause aufbewahrte? Nun, oder vielleicht bist du beim Aufräumen selbst darauf gestoßen. Wie auch immer das war, sie starb im Sommer 1983 – an einem Schlaganfall. Ich habe mit dem Arzt im Krankenhaus gesprochen, habe ihn gefragt, ob die Einnahme von Rattengift auch Symptome wie bei einem Schlaganfall auslösen könne, was er
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