Schneeflockenbaum (epub)
fragte ich.
»Ich denke nicht, dass irgendein Programmierer es der Mühe wert finden würde, Verse einzugeben, um zu sehen, ob ... Nein, das wäre ...
»Die Musik steht für dich also doch ein wenig höher als die Poesie?«
»Lass es mich so ausdrücken: Musik hat mehr Anspruch. Konzertsäle, Aufführungen, es wird mehr so getan, als habe sie eine Bedeutung, obwohl es sich hierbei nur um Schwingungen der Luft handelt, die irgendwann das Trommelfell, unter Zuhilfenahme eines Zeitrahmens, der durch Tempoverlangsamung gedehnt und durch Tempoerhöhung verkürzt wird, derart unrandomisiert berühren, dass manche Menschen dies, vorausgesetzt, gewisse Randbedingungen werden erfüllt, offenbar als angenehm empfinden, obwohl es keinen vernünftigen Grund gibt, weshalb der eine Ton besser klingen sollte als ein anderer Ton ...
»Du hast recht, ein einziger Toon kann manchmal bereits eine schwere Prüfung sein.«
»Das erscheint mir irgendwann weniger relevant ...
»Hör auf«, unterbrach Jouri ihn, »er versucht dich zu veräppeln.«
»Lass dir gesagt sein«, fuhr Toon fort, »dass der Computer irgendwann eine Beethoven-Symphonie nach der anderen ausspucken wird, die alle existierenden Beethoven-Symphonien mühelos in den Schatten stellen.«
»Dass dir auf einmal ein solcher Name einfällt und dass du sogar weißt, dass es so etwas wie Symphonien gibt ... da bin ich aber platt!«, sagte ich.
Toon hob erstaunt den Kopf und sah mir durch seine glitzernden Brillengläser tatsächlich für einen Moment geradewegs in die Augen. Ein Grinsen umspielte seine fast unsichtbaren Lippen. Sowohl darüber als auch darunter wuchs üppiges schneeweißes Haar, in dem, wahrscheinlich randomisiert, kleine Speichelblasen glitzerten.
Sosehr ich mich auch über seine schreckliche Vorhersage hinsichtlich der Fähigkeit von Computern ärgerte – es war nicht vollkommen auszuschließen, dass er recht hatte –, so blieb er in meinen Augen doch, auch wenn es schien, als fände in seinen Thesen das »Geschnörkel« seiner Gattin eine futuristische Fortsetzung, ein überaus netter Kerl. Daher sagte ich: »Es ist schade, dass wir uns so selten sehen.«
»Komm ruhig vorbei«, erwiderte Toon, »Julia freut sich bestimmt auch. Dann hat sie mal wieder jemanden zum Schachspielen, denn dafür habe ich keine Zeit.«
»Dafür gibt es heutzutage doch prima Schachcomputer.«
»Sie hat sogar einen«, sagte Toon, »aber seltsamerweise will sie lieber gegen einen lebenden Menschen spielen, das scheint sie unterhaltsamer zu finden.«
»Wir sitzen regelmäßig zu viert im Garten und trinken ein Glas Wein«, sagte Jouri. »Was hält dich davon ab, dich dazuzugesellen? Ich nehme an, du bist des Öfteren in der Gegend, schließlich wohnt dein Chef doch bei uns um die Ecke. Frederica sieht dich hin und wieder vorbeifahren.«
»Ich schau bald mal rein«, sagte ich.
Als ich aber ein paar Tage nach der Promotionsfeier auf dem Weg zu meinem Chef in der Abenddämmerung bei ihnen vorbeifuhr und Licht in den Gärten sah und ihre Stimmen hörte und den Geruch von verschmorendem Schweinefleisch roch, da war mir, als drückte mir eine Riesenklaue die Kehle zu. Woher kam nur dieser rätselhafte Schmerz?
Jedenfalls wollte ich nicht noch einmal über die Fortschritte des Computerwesens informiert werden. Dass ein hoch entwickelter Computer irgendwann einmal ein blasses Abbild einer Mozart-Symphonie ausspucken könnte, schien damals nicht undenkbar. Aber ich hoffte, dass dies nie geschehen würde. Das hoffe ich im Übrigen noch immer, wobei ich inzwischen viel eher davon überzeugt bin, dass auch in ferner Zukunft kein einziger Computer jemals in der Lage sein wird, ein überragendes Mozart-Stück zu komponieren. Bedauerlicherweise nicht zuletzt deshalb, weil es in ferner Zukunft niemanden mehr geben wird, der sich noch nach Mozarts Musik sehnt. Sollte es jemals so weit kommen, bin ich zum Glück längst tot.
Markowketten
K urz vor seiner Emeritierung verstarb unser Institutsleiter an einem Herzstillstand.
»Wirst du jetzt der neue Professor für Parasitologie?«, fragte Katja mich am Abend vor seinem Begräbnis.
»Mich wird man niemals zum Professor ernennen«, erwiderte ich.
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht professorabel bin. Weil mein Vater Kanalarbeiter war. Weil ich nicht fein genug bin, weil ich nicht kultiviert bin, weil ich keine Manieren habe, weil ich nicht wohlerzogen bin. Weil es mir, wenn ich bei einer Promotionsfeier am Tisch sitze, leicht
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