Schneeflockenbaum (epub)
Maul schieben kann. Selbst eine einfache Kröte – und Toon besaß eine riesige Kreuzkröte, die auf den Namen Irene hörte und auch gern mal eine frisch geborene Ratte verputzte – vermag es, mit einem Vorderbein die Beute gerade zu rücken. Eine Vierstreifennatter aber hat natürlich keine Vorderpfoten, deshalb beugt sie sich, wenn die Beute schief im Maul sitzt, zu Boden und versucht, diese mit einer seltsamen, ungeduldigen Wischbewegung gerade zu legen. Das dauert mitunter recht lange, und währenddessen piepst die kleine Ratte herzzerreißend. Darum gab ich mir immer Mühe, die Ratte auf Anhieb so gerade und so tief wie möglich in den Schlangenschlund zu stopfen.
Manchmal gerieten dabei mein Daumen und mein Zeigefinger zwischen die stumpfen Zähnchen des Untiers. Zum Glück übernahm nach Toons Hochzeit seine Gattin die Aufgabe, die Vierstreifennatter mit Rattenjungen zu füttern. Schon bald erwies sie sich als perfekte Schlangenversorgerin, denn schließlich war es dieselbe Frau, mit der ich schon während meines Studiums so vortrefflich zusammengearbeitet hatte.
Selbst heute, gut dreißig Jahre nachdem Gerard mir zuflüsterte, dass seiner Meinung nach »zwischen Toon und Julia was läuft«, und ich ihn deswegen zuerst auslachte und dann sagte, dergleichen sei vollkommen undenkbar, kann ich es noch immer nicht fassen, dass diese beiden zueinanderfanden. Im Hinblick auf Julia hatte Toon mir versichert, er gehöre nicht zur Population der Anfälligen, sein Verhalten gab mir auch keinen Anlass, ihm nicht zu glauben. Hinzu kam, dass Julia sich nie für ihn interessiert hatte. Doch wie dem auch sei, mitten im fünften Studienjahr, als wir uns aus den Augen verloren hatten, weil die gemeinsamen Vorlesungen und Übungen vorbei waren, hörte ich, dass Toon und Julia miteinander gingen. »Sie hat die Kaltblütigkeitsprüfung als Zweitbeste bestanden, und so kam dann eins zum anderen«, meinte Gerard lakonisch.
»Und wer war der Beste?«, fragte ich ihn erstaunt.
»Ich natürlich«, erwiderte Gerard stolz.
»Ach so, und weil du nicht in Betracht kamst, hat er sich also an sie ... Okay, dass er sich in sie verliebt hat, weil sie so kaltblütig ist, das kann ich noch verstehen, aber das bedeutet doch nicht gleichzeitig, dass sie sich auch in ihn ...
»Sie ist nicht in ihn verliebt, sie hat sich in die Vierstreifennatter verguckt. Sie steht auf Reptilien.«
Wenn darin ein Körnchen Wahrheit lag, dann schien mir dies doch keine ausreichende Erklärung dafür zu sein, dass diese Gegenpole ein Paar geworden waren.
Als ich Julia ganz unerwartet auf dem Leidener Markt traf, sagte ich stotternd zu ihr: »Du und Toon? Wie ist das nur möglich?«
Mürrisch, ja regelrecht grimmig sah sie mich mit ihren großen enzianblauen Augen an. Dann zitterte eine kleine Furche an ihrem Mundwinkel, und ein schiefes Lächeln erschien, das sich langsam über die gesamte Breite der von mir niemals geküssten Lippen ausbreitete. Schließlich murmelte sie, plötzlich wieder ein wenig mürrisch: »Tja, ich weiß auch nicht, abwarten, ob wirklich etwas daraus wird.«
»Und was ist mit unserer Verabredung am 1. Mai 2000?«, fragte ich.
»Das ist vereinbart und wird nicht annulliert.«
Als ich wieder einmal ein paar neugeborene Ratten an der Pieterskerkgracht vorbeibrachte, stellte ich Toon dieselbe Frage: »Du und Julia? Wie ist das nur möglich?«
Daraufhin hob Toon, der einen nie ansah und immer in Richtung Boden sprach, kurz den Kopf und linste triumphierend zu mir herüber. Dann schaute er wieder auf die Fliesen und sagte: »Ach, die Wahl eines Lebenspartners ist nun einmal relativ gesehen eine recht willkürliche Angelegenheit. In diesem Fall läuft es darauf hinaus, dass wir beide, uns zufällig in derselben Nullphase im Zeitrahmen befindend, mehr oder weniger in dem wenigen Material herumgesucht haben, das noch zur Auswahl stand. Aber gerade deswegen gehe ich davon aus, dass es – mit einem solchen Nullwert als Ausgangspunkt – keinen Grund gibt anzunehmen, dass das Ganze scheitern wird. Es kann schließlich nur besser werden. Außerdem scheinen unsere minimalen Zukunftserwartungen recht gut aufeinander abgestimmt zu sein, wobei noch positiv hinzukommt, dass wir beide nicht den Wunsch verspüren, uns in die Reproduktionssphäre zu begeben.«
Danach traf ich, wenn ich die Ratten an der Pieterskerkgracht ablieferte, jedes Mal Julia an. Es dauerte nicht lange, da war ich von der unangenehmen Aufgabe des Fütterns befreit. Julia
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