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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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nahm die Babyratten in Empfang und verfütterte sie in aller Ruhe an die Vierstreifennatter. Auch nachdem die beiden geheiratet und ein Haus mit Treppengiebel an der Groenhazengracht bezogen hatten, verwöhnte ich das immer größer werdende Reptil mit neugeborenen Nagern. Oft war Julia allein zu Hause, wenn ich kam, und dann spielten wir in dem langen, schmalen Wohnzimmer Schach. Meistens lief das Radio, und ich hatte jedes Mal Angst, es könnte ein Werk Mozarts erklingen, und sie würde wieder von dem »ganzen Geschnörkel« anfangen.
    Gewöhnlich gewann ich, doch wenn sie mich schachmatt gesetzt hatte, sagte ich beim Weggehen: »Was auch geschieht, am 1. Mai 2000 werde ich mich revanchieren.«
    »Und dann machen wir einen vollkommen irrsinnigen Tag daraus«, erwiderte sie, durch ihren Sieg aufgemuntert.
    Wann hat ihr Niedergang angefangen? Als sie zu unterrichten anfing? Für den Lehrerberuf war sie nicht geschaffen. Manchmal traf ich sie, wenn ich am späten Nachmittag vom Rapenburg zum Nieuwe Rijn unterwegs war. Oft an windigen Tagen, an denen es auch noch nieselte. Dann radelte sie mit kreidebleichem Gesicht von der Schule nach Hause. Ich rief sie, ich winkte ihr zu, sie hörte und sah mich nicht. Sogar bei Rückenwind fuhr sie, als strampele sie gegen einen Sturm an, den Rücken gekrümmt, die leichenblassen Hände um den Lenker gekrampft. Wenn ich mittags ein Brot beim friesischen Bäcker hinter der Groenhazengracht gekauft hatte und zum Labor zurückging oder -fuhr, dann sah ich sie oft totenstill auf Toons Couch liegen. Und wenn ich zwei Stunden später wieder vorbeikam, lag sie noch immer dort. Beim Anblick ihres inzwischen aufgedunsenen und formlos gewordenen Körpers, der in Schlabberpullover und Wickelrock gehüllt war, überkam mich ein riesiges Schuldgefühl. Mir kam es so vor, als hätte ich meine Pflicht nicht erfüllt, als hätte ich es Toon aufs Auge gedrückt, sie zu führen, sie aufzumuntern und sie durch dieses harte Dasein zu lotsen. Auch wenn es mit einer Art eitlem Hochmut zu tun hatte, so war mir doch bewusst, dass ich sie besser als jeder andere aufmuntern konnte. Wenn ich sie wie einen Zombie umherradeln sah, dachte ich: Du hast dich aus dem Staub gemacht, du bist vor der Verantwortung geflohen, du hast das »ganze Geschnörkel« missbraucht, um dich deiner Pflicht zu entziehen. Stellte ich mir aber vor, sie hätte den Ausdruck nicht benutzt und ich wäre mit ihr verheiratet, dann fuhr ein Schauder durch meinen ganzen Körper. Und ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie mich gewogen und für zu leicht befunden hatte – und nicht umgekehrt.
    Nachdem Julia ihren Lehrberuf aufgegeben hatte, berappelte sie sich wieder. Doch sie blieb träge, und es schien, als wäre sie zum Stillstand gekommen. Ich hörte etwas von einer Stoffwechselstörung, von hormonellen Problemen. Wenn ich am späten Nachmittag mit meinen Ratten zu ihnen kam, dann erhob sie sich von ihrer Couch, und es war, als entledige sie sich allmählich des Panzers, der sie zur Bewegungslosigkeit verdammte. Es gelang mir immer wieder, die Julia von früher, von ganz zu Beginn hervorzuzaubern, auch wenn dies auf meine Kosten geschah. Je fröhlicher und aufgeweckter sie wurde, umso trauriger und missmutiger wurde ich. Für eine Weile durfte ich ihre Last tragen.
    Anfangs, als sie frisch verheiratet waren, sind Katja und ich tatsächlich einmal bei Julia und Toon zu Besuch gewesen. Wir haben damals einen warmen Sommerabend lang in dem kleinen Garten hinterm Haus gesessen. Man bot uns Ekelschnaps aus einer Flasche an, in der eine Insektenlarve schwamm. Katja schüttelte sich. Mit Senf bestrichene Fleischstücke lagen auf dem Holzkohlegrill. Selbst mir, damals nur halb zum Vegetarismus bekehrt, missfiel dieser ungenierte Verzehr von verbrannten Koteletts. Und was mir noch weniger gefiel, war die Tatsache, dass die beiden nicht nur starken Tabak rauchten, sondern uns den Rauch auch neckisch ins Gesicht bliesen. Offenbar war das Essen vor allem als nachdrückliche Demonstration der unbestreitbaren Tatsache gedacht, dass wir als Ehepaare nichts gemein hatten. Von weiteren Kontakten zwischen uns war danach auch nie wieder die Rede.
    Einmal sagte Katja traurig zu mir: »Durch mich hast du deinen ganzen Freundeskreis verloren, Toon und Julia, Jouri und Frederica.«
    »Ach was«, erwiderte ich, »Toon und Jouri haben einander gefunden, als sie mir bei meiner Promotion sekundierten. Danach haben sie eifrig einen hervorragenden

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