Schneeflockenbaum (epub)
von wem das ist?«
»Nein, nirgends«, erwiderte Jouri.
»Ich schätze, dass es ein Barockstück ist. Von ’nem prima Burschen. Einem Deutschen, natürlich. Woher sonst? So ’n verdammt schönes Stück. Dreh noch mal um.«
»Nein!«, riefen die Schwestern. »Nein!«, rief die Mutter. »Nein!«, rief auch Jouri.
»Keinen Geschmack«, kommentierte der Senior knapp. »Schade, aber nichts zu machen, dann verpasst man eben immer das Beste, Pech gehabt.«
Die Bücher über Arretje Nof, die Pisspötte, die Strickmaschine, seine Mutter, die so unglaublich nett war, das entzückende Hündchen Schorrie mit seinem Heilhitlerohr und natürlich vor allem Jouri selbst – für all dies war ich so oft wie möglich auf den Zuiddijk gestiegen. Nun kam noch etwas hinzu, das alles andere mühelos übertraf: das verdammt schöne Stück.
Jedes Mal, wenn ich zu den Kerkmeesters kam, fragte ich zaghaft: »Darf ich die 45er-Platte noch einmal hören?«
Meistens durfte ich nicht, weil die Damen dank der illegalen Solex-Reparaturen über Mittel verfügten, selbst 78er-Platten zu kaufen, und die gingen natürlich vor. Lieder über Nachtigallen in grünbronzenem Eichenholz und über einsame Cowboys, die ohne Wasser über die Veluweprärie irrten. Niederschmetterndes Mistzeug eben, bei dem lauthals mitgebrüllt wurde. Waren die Damen nicht zu Hause, erbarmte sich Jouri gelegentlich, und dann war sie wieder da, diese unglaubliche Musik, in die meine ganze Seele und Seligkeit hingelegt zu sein schien.
Manchmal kam Jouris Vater aus der Werkstatt hoch, und wir hörten uns zusammen das »verdammt schöne Stück« an. Eines Tages sagte er kurz angebunden zu mir: »Es gibt mehr von dem Zeug. Wenn ich mal wieder ein Sümmchen mit Aufmöbeln verdient habe, kauf ich was davon.«
Er brachte das Dienstfahrrad des Hafenmeisters auf Vordermann, kaufte die LP Music for the Millions , Teil eins, und sagte: »Wenn die Banausen weg sind, hören wir uns die zusammen an.«
Music for the Millions war eine Platte mit lauter Evergreens: Liebestraum von Liszt, die Humoreske von Dvořák, der bekannteste Walzer von Brahms, eine Violinromanze von Beethoven, das Impromptu Ges-Dur von Schubert, der Minutenwalzer von Chopin. Tja, wer zeit seines Lebens nicht eine einzige Note dieser mehr als bekannten Stücke gehört hat, wer in so einer hoffnungslos dürren Wüste aufgewachsen ist, in der niemals etwas vom lebendigen Wasser der Komponisten, und seien es auch nur die bekanntesten, erklingt, für den ist eine solche Platte eine regelrechte Offenbarung.
Später kaufte Jouris Vater auch Music for the Millions , Teil zwei, und im Laufe eines halben Jahres besorgte er sich alle Einzelteile für einen Eigenbauplattenspieler. Wie er das schaffte, entzog sich meiner Wahrnehmung, ebenso wie es ihm gelang, in seiner Werkstatt einen zwar hässlichen, aber vortrefflichen Lautsprecher zu installieren. Dort lauschten wir, Bundesgenossen, die wir waren, dem inzwischen komplett abgenudelten »verdammt schönen Stück«. Und Music for the Millions , Teil eins und zwei. Schicksalsverbunden summten wir leise mit.
Jo Kerkmeester war, anders als meine spätere Frau, niemand, der schnippisch ruft: »Ich höre ein Instrument zu viel«, wenn man leise mitsummt. Im Gegenteil, Jo sen. schlug oft mit einem Engländer leise den Takt auf den Speichen oder den Schutzblechhaltern der Fahrräder, die er gerade aufmöbelte.
Wenn ich an die Nachmittage in seiner Werkstatt zurückdenke, erstaunt es mich immer wieder, dass Jo Kerkmeester sen., der sonst nie von seinen Erlebnissen während der Besetzung sprach, in der Pause zwischen zwei Platten, offenbar von der Musik dazu angeregt, ganz nebenbei noch einmal die Ansichten zum Besten gab, derentwegen er nach dem Krieg verurteilt worden war.
»Glaub nicht, dass das Abschaum war, die Männer bei der SS. Das waren Intellektuelle. Das waren Leute, die studiert hatten, Ingenieure, Architekten, Professoren, das war die Elite.«
Zum Glück wusste ich kaum, wofür die Buchstaben SS standen. Weder zu Hause noch in der Schule erfuhr man je etwas über den Krieg. Wenn überhaupt von Kriegshandlungen gesprochen wurde, dann erwähnte man nur die Siege bei Heiligerlee und Nieuwpoort sowie den Überfall im Medway, Ereignisse, die bereits vor mehreren Hundert Jahren stattgefunden hatten. Mein ganzes Wissen über die Besatzungszeit stammte aus Jugendbüchern: Holländische Burschen in der deutschen Zeit von Aart Romijn, Mit Pferden durch die Nacht und
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