Schneeflockenbaum (epub)
Schwarzer Tinus, der Verlierer von J. W. Ooms und der vierbändige Roman von Anne de Vries, der später unter dem Sammeltitel Im Schatten der Gewalt veröffentlicht wurde. In diesen Jugendbüchern kam die SS praktisch nicht vor. Erst als ich Englandfahrer von Klaas Norel las, verstand ich so richtig, was die beiden Buchstaben bedeuteten.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass Kerkmeester sen. nach der Fünften von Beethoven plötzlich ausrief: »Blöder Hitler! Erklärt Amerika den Krieg! Das wäre gar nicht nötig gewesen. Dann hätten sich die Amerikaner rausgehalten, und Hitler hätte Stalin locker besiegen können. Dann würden wir jetzt in der verstärkten Festung Europa wohnen. Und wir müssten keine Angst haben, eine Atombombe aus Moskau aufs Dach zu kriegen. Dummer, dummer Hitler. Warum hat er das getan? Amerika den Krieg erklären? Ich meine: Obwohl sie mir ständig auf die Pelle rücken, erkläre ich Solex doch auch nicht den Krieg? Die greife ich von hinten an. Blöder, blöder Hitler.«
Weil ich seine Äußerungen damals nicht recht verstand und »blöder Hitler« sich außerdem gar nicht wie eine Lobpreisung anhörte, war ich über seine Auslassungen nicht erschrocken oder erstaunt. Außerdem war ich vollkommen eingenommen von den Wunderdingen, die dort aus dem von Kerkmeester sen. gebauten Lautsprecher erklangen. Ich weiß noch, dass mein Vater mich einmal fragte, ob Jouris Vater manchmal komische Dinge sage. »Er schimpft oft auf Hitler«, erwiderte ich. »Er ruft ständig: ›Blöder, blöder Hitler!‹«
Woraufhin mein Vater erstaunt sagte: »Ist ihm womöglich doch noch die Erleuchtung gekommen?«
Und meine Mutter fügte hinzu: »Selbst wenn das stimmt, bin ich der Ansicht, dass du lieber einen großen Bogen um die Familie machen solltest. Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie dieser Jouri hier Socken gestrickt hat. Solch schmale Finger, oh, wie grauenhaft geschickt er damit ist. Früher, auf der Heerenlaan, da kam hin und wieder auch so ein fingerfertiges Bürschchen zu uns ins Haus. Der Junge stahl einem die Milch aus dem Kaffee, ohne dass man es bemerkte.«
Trommius
S elbstverständlich begann an der Groen-van-Prinsterer-Schule der Tag bei Lehrer Splunter mit einem Gebet, in dem der Segen auf unsere Rechen- und Sprachstunden herabgefleht wurde. Und sowohl mittags wie auch nachmittags wurde der Unterricht mit einem Dankgebet für die reichen Wohltaten in Form von Brüchen, Diktaten und nützlichen Handarbeiten für die Mädchen beendet. Es spricht für sich, dass wir brav unsere Hände falteten und die Augen schlossen, wenn Lehrer Splunter ankündigte, sich direkt an den Allerhöchsten zu wenden. Wer das nicht tat, lief allerdings kaum Gefahr, erwischt zu werden. Hätte Lehrer Splunter nämlich jemanden dabei erwischt, hätte er implizit zugegeben, dass er selbst während des Gebets die Augen auch nicht geschlossen hatte.
Darum entging es sogar dem Adlerblick von Lehrer Splunter, dass Jouri nie die Hände faltete und die Augen schloss, wenn das Gebet gesprochen wurde. An einem ganz gewöhnlichen sonnigen Schultag im September schlenderte Oberlehrer Koevoet allerdings an unserem Klassenzimmer vorbei, und zwar just in dem Moment, als Lehrer Splunter den Allerhöchsten anrief. Oberlehrer Koevoet stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch das Oberlicht der Tür in unsere Klasse. Er schaute geradewegs in Jouris weit aufgerissene Augen.
Koevoet wartete, bis er Lehrer Splunter mit erhobener Stimme »Amen« hatte sagen hören, klopfte dann an, kam herein und donnerte: »Es gibt hier einen Jungen, der die Hände nicht faltet und die Augen nicht schließt.«
»Wer ist es?«, brüllte Lehrer Splunter.
»Dieser Bursche!«, schrie Oberlehrer Koevoet und deutete dabei mit ausgestrecktem Jerobeam-Arm auf Jouri.
Lehrer Splunter nahm sein langes Lineal, als wollte er es wetzen, legte es wieder hin, stieg dann von seinem Katheder mit dem Pult herab und schritt drohend auf unsere Bank zu.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es war, als wären es meine Hände und Augen gewesen, die während des Bittgebets so schwer gesündigt hatten.
Jouri lächelte, schaute unbekümmert zum herantigernden Splunter, faltete die Hände und stützte dann sein Kinn auf die abgespreizten Daumen. Man konnte den Eindruck bekommen, er wolle damit zeigen, dass man seine Hände vielmehr aus anderen Gründen als religiösen zusammenlegt.
So wurde es jedenfalls verstanden, denn Oberlehrer Koevoet zischte: »Was für
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