Schneeflockenbaum (epub)
wenn die Solex einmal den Geist aufgegeben hatte. Dann musste man die schwere Maschine an der Hand mitführen. Manchmal musste sie sogar regelrecht über den »Wegt« geschoben werden, bis man, keinen Trost mehr aus dem mit weißen Buchstaben auf eine Wand neben Vinks Laden geschriebenen Spruch »Solex Deo Gloria« schöpfend, verschwitzt und abgekämpft bei Henk ankam.
Manch einer hatte dazu keine Lust. Im Schutz der Abenddämmerung schoben sie ihre Solex zu der Werkstatt hinter dem Zaunwindenzaun. Und Jo Kerkmeester reparierte die Solex dann so unglaublich viel besser und billiger als die Maasländischen Monteure im Motorhome Henk Vink, dass schon sehr bald niemand aus Maassluis mehr seine Solex nach Maasland schob. Wie er das in Anbetracht der Tatsache, dass man Ersatzteile für eine Solex nur beim Vertragshändler kaufen konnte, geschafft hat, habe ich nie erfahren. Böse Zungen behaupteten, er habe dafür seine Kontakte aus der Zeit während des Krieges wieder spielen lassen. Man munkelte auch, er habe sich sein Können beim Arbeiten an Motoren der Wehrmacht angeeignet.
Beim Motorhome Henk Vink war man nicht blöd. Man schaltete die niederländische Solex-Zentrale ein. Es wurde Anzeige erstattet, und es kam zum Prozess. Kerkmeester wurde verurteilt und durfte keine Solex mehr anrühren. Aber das brachte nichts. Bei einsetzender Dämmerung machten sich die Kunden auf den Weg in seine Werkstatt. Viele schnurrten im Übrigen auf einer Solex aus zweiter Hand umher, und über die konnte Solex Niederlande ohnehin nicht mehr bestimmen.
Bei den Kerkmeesters stieg der Wohlstand. Er stieg sogar derart, dass Jouris Vater sich zögernd dazu entschloss, ein Grammofon anzuschaffen.
Das Grammofon
J eder rechtschaffene Mensch begreift, dass der Kauf eines Grammofons ein riesiges Loch in den Familienetat reißt. Folglich fehlen danach die Mittel, eine oder gar mehrere Schallplatten zu kaufen. Dabei gilt es zu bedenken, dass Tonträger damals ein Vermögen kosteten. Als ich während meines Studiums die erste Schallplatte kaufte, lebte ich von zweitausendvierhundert Gulden Stipendium pro Jahr, und eine Langspielplatte kostete zu der Zeit vierundzwanzig Gulden; das war genau ein Prozent meines Jahreseinkommens.
Die Kerkmeesters waren nun also stolze Besitzer eines Grammofons und konnten es sich aus diesem Grund nicht leisten, Schallplatten zu kaufen. Aber das war keine Katastrophe, denn es zeigte sich, dass es bereits ein Riesenvergnügen war, den sich gleichmäßig drehenden leeren Plattenteller zu beobachten, den man zudem noch auf drei Geschwindigkeiten einstellen konnte, 33, 45 und 78 Umdrehungen pro Minute. Stand er auf der schnellsten Stufe, rotierte der Plattenteller unaufhaltsam, und wenn man ein Papierknäuel darauflegte, dann wurde es wild heruntergeschleudert und oft vom aufmerksamen Schorrie gefangen. Sein fröhliches Bellen kompensierte den fehlenden Ton. Hinzu kam, dass beim intensiven Starren auf den sich drehenden Teller, um ein wenig in Trance zu geraten, »keine Nadeln und keine Platten verschleißen«, wie Nachbar Stalin zu Recht bemerkte, als er einmal zu Besuch kam, um das Wunder zu betrachten.
Ein halbes Jahr später bat Puk Corporaal Jouri um ein Paar teerfarbene Socken mit karminroten Verzierungen.
»Ich stricke nicht mehr«, sagte Jouri.
»Nur einmal noch«, bettelte Puk. »Wo sonst kriege ich solche Prachtsocken?«
»Die Maschine steht bei meinem besten Freund zu Hause.«
»Dann strick sie dort, ich werde dich fürstlich entlohnen. Von meinem Onkel Zijpe aus Zeeland, der nach einem fürchterlichen Tritt seines Stiers das Zeitliche gesegnet hat, habe ich eine ganze Ladung Platten geerbt. Darunter befindet sich eine 45er-Scheibe, die mir nicht gefällt. Die kriegst du zusätzlich.«
Ein solch phantastisches Angebot konnte man natürlich nicht ausschlagen. Unter den aufmerksamen Blicken meiner Mutter strickte Jouri an einem freien Mittwochnachmittag in unserem Haus ein Paar schwarzbraune Socken mit feuerroten Verzierungen im Bund und in den Sohlen. Gemeinsam brachten wir die Socken zu Puk Corporaal, der an der Mole wohnte. Dort erhielt Jouri sein Honorar und dazu seine 45er-Schallplatte.
Wer kann sich heute noch vorstellen, wie wir uns fühlten, als wir die Platte, die in einer grauen Hülle steckte, von der Mole über den Bahnübergang und durch die Fenacoliuslaan zum Zuiddijk trugen? Unterwegs sprach uns der Wächter der Kippenbrücke an.
»Was habt ihr denn da?«
»Eine
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