Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
Vom Netzwerk:
Erinnerung an diese Szene mit dem Gebetsräuchwerk auch, doch an jenem sonnigen Septembertag zerschlug Splunter sein Lineal auf meinem verkrampften Leib.
    Als wir nach Hause gingen, fragte Jouri: »Tut es noch weh?«
    Ich ließ mir nichts anmerken und sagte: »Nicht so schlimm. Darf ich das Buch von Trommius mal sehen?«
    »Aber sicher.« Kurze Zeit später saßen wir bei Jouri im Wohnzimmer und blätterten in den drei dicken Bänden von Trommius. Jouri erklärte mir, wie man das Werk benutzen muss. Man nahm ein Wort, suchte es in der alphabetisch geordneten Liste und fand dann dort alle Bibelstellen, an denen dieser Begriff vorkommt.
    Mir kam dieses Werk fast wie ein Wunder vor, doch was mich sehr befremdete, war die Frakturschrift.
    »Kannst du diese komischen Buchstaben lesen?«
    »Ach, daran gewöhnt man sich«, sagte Jouri, »nenn mir doch mal ein Wort, und dann sag ich dir, wo es in der Bibel überall vorkommt.«
    Einen Moment lang schwirrte mir das Wort »Furz« durch den Kopf, aber ich riss mich am Riemen und sagte resolut: »Libelle.«
    Jouri blätterte zuerst in Band eins aus dem Jahr 1685, »umfassend alle historischen Bücher von Genesis bis Esther einschließlich«, dann in Band zwei aus dem Jahr 1691, »umfassend alle Lehrbücher und die prophetischen Bücher von Hiob bis Maleachi einschließlich«, und danach in Band drei, »das Neue Testament«.
    »Das Wort ›Libelle‹«, sagte er schließlich feierlich, »kommt in der Bibel nirgendwo vor.«
    »Keine Libelle?«, fragte ich erstaunt. »Steht ›Libelle‹ nicht drin? Kommen Libellen in der Bibel nicht vor?«
    »Libellen werden in der Bibel nicht erwähnt«, bestätigte Jouri.
    »Mosaikjungfern denn?«, fragte ich.
    Wieder suchte Jouri in allen drei Bänden vergeblich.
    Ich weiß noch, dass ich zu Hause, nach dem Abendessen, fassungslos in unserer eigenen Bibel geblättert habe. Sprach das heilige Wort tatsächlich nirgendwo von Libellen und Mosaikjungfern? Aber warum nicht? Die Bibel behandelte doch das ganze Leben? Die Heilige Schrift berührte doch alles, worauf es ankam? Waren Libellen denn nicht wichtig? Gab es etwas Herrlicheres als einen Entwässerungsgraben im Polder mit Mosaikjungfern, die über Krebsscheren schweben? Trotzdem schwieg Gott sich in seinem Buch darüber aus. War der Schöpfer solch wunderschöner Wesen wie der Weidenjungfer, des Frühen Schilfjägers, des Vierflecks, des Blaupfeils, der Herbstmosaikjungfern denn so bescheiden? Ich wurde daraus nicht schlau.
    Danach ist die Heilige Schrift für mich nie wieder dieselbe gewesen. Dass in der Bibel nie jemand Schlittschuhe anschnallte, war in Anbetracht des fürchterlichen Klimas im Heiligen Land ja noch verständlich, obwohl es nichts Wunderbareres gibt als die erhabene Stille von zugefrorenen Wasserflächen. Und damit, dass – wie Jouri und ich mithilfe von Trommius feststellten – weder die Stabwanze noch der Wasserskorpion in der Bibel genannt wurden, der Rückenschwimmer ebenfalls nicht, und Spinnen wurden nur zweimal erwähnt, nun ja, damit konnte man leben, und was die Spinnen anging, so musste man natürlich auch auf das empfindsame Gemüt der Hausfrauen Rücksicht nehmen, aber dass die Bibel kein Wort über die zarten, fragilen Wasserjungfern verlor, das kam uns fast wie eine Todsünde vor. Dadurch schien es auf einmal weniger selbstverständlich, dass die Bibel eine Richtschnur für das ganze Leben darstellte.
    Im Übrigen kamen weder Splunter noch Koevoet je wieder auf diesen denkwürdigen Septembertag zurück. Mit nicht gefalteten Händen und weit offenen Augen schauten Jouri und ich uns seitdem strahlend an, wenn in der Klasse gebetet und gedankt wurde. Auch während des Gottesdienstes schloss ich fortan meine Augen nicht mehr, wenn der Pastor vorbetete. Ich schaute mich dann um und entdeckte überall Kirchgänger, die die Heilige Schrift offenbar auch gründlich studiert hatten, denn auch sie lehnten es aus biblischen Gründen ab, die Augen zu schließen und die Hände zu falten.

Der Löwe und das Lamm
    W eil ich meine Augen nicht mehr schloss, wenn Splunter das Gebet sprach, entdeckte ich, dass es in unserer Klasse noch jemanden gab, der sich fröhlich umsah, während unser Lehrer um Segen für unsere Rechenstunden bat: Ria Dons. Ria war ein kräftiges Mädchen mit dunklen Locken, und sie wohnte in ’t Paard z’n Bek. Wegen Fehlverhaltens war sie der öffentlichen Prins-Bernhard-Schule verwiesen worden, und so war sie bei uns gelandet. Erst als ich entdeckte,

Weitere Kostenlose Bücher