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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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eine Frechheit!« Lehrer Splunter hatte inzwischen unsere Bank erreicht.
    »Jouri Kerkmeester, warum hast du deine Hände nicht gefaltet und deine Augen nicht geschlossen, als ich das Gebet sprach?«, polterte er.
    »Ich falte die Hände nie, und ich schließe auch meine Augen nicht, Herr Splunter«, erwiderte Jouri überaus freundlich und ohne die Stimme zu erheben.
    Offenbar waren weder Oberlehrer Koevoet noch Lehrer Splunter auf ein solch verblüffendes Geständnis vorbereitet. Eine Zeit lang schienen sie nicht in der Lage, adäquat darauf zu reagieren. Beide atmeten schwer und rasselnd, aber es kam kein Wort aus ihnen heraus.
    »Ich habe die ganze Bibel daraufhin durchgesehen«, sagte Jouri, »und ich habe keine Stelle finden können, aus der hervorgeht, dass man beim Beten die Hände falten und die Augen schließen muss. Darum sehe ich nicht ein, weshalb ich dabei die Augen schließen und die Hände falten sollte. Beides ist unbiblisch, es ist nur eine Tradition, genau wie die Marienverehrung bei den Katholiken.«
    »Ich werde dafür sorgen, dass die Reiter der Apokalypse über deine Rippen galoppieren«, zischte Lehrer Splunter.
    »Das schadet an und für sich nicht, aber damit kommen wir hier nicht weiter, Jochem«, wandte Oberlehrer Koevoet ein.
    Die Tatsache, dass der Oberlehrer eines der bestgehüteten Schulgeheimnisse – den Vornamen von Lehrer Splunter! – preisgab, unterstrich den Ernst der Lage.
    In dem Moment, als Splunter Jouris rechte Hand packte, um ihn aus der Bank zu zerren, legte ich ganz impulsiv meinen Arm um dessen Schulter. Anders als ich, der schon oft als Harfe hatte dienen dürfen, war der brave, immer sehr höfliche, fleißige, zurückhaltende Jouri noch nie mit Splunters Lineal in Berührung gekommen. Sowenig es mir ausmachte, regelmäßig mit dem Lineal traktiert zu werden, so sehr nahm ich es mir zu Herzen, dass er auf Jouris Rippen musizieren wollte. Einen so makellosen Kerl wie Jouri, den schlug man doch nicht?
    »So, so, du bewirbst dich also auch um eine Rippentortur«, knurrte Splunter mich an.
    »Lass mich ruhig los«, sagte Jouri seelenruhig. »Herr Splunter will mir in seiner prächtigen großen Bibel die Stelle zeigen, wo steht, dass man beim Beten die Augen schließen und die Hände falten muss.«
    Jouri deutete auf die Staatenübersetzung, deren glänzende Kupferschließen auf Splunters Pult im Septembersonnenlicht funkelten, das schräg von der Seite durch die hohen Fenster fiel.
    Dass Jouri mit diesem Kompliment für seinen größten Schatz – seine berühmte Staatenübersetzung der Bibel mit Goldschnitt und kupfernen Schließen – Splunter direkt ins Herz traf, scheint mir die wahrscheinlichste Erklärung dafür, dass Splunter seinen Arm wieder losließ und wie ein schlaksiger Gerichtsvollzieher zu seinem Pult stolperte. Dort angekommen, streichelte er über den Rücken seiner Bibel, als wäre es der Rücken einer Dirne. Dann flüsterte er: »Ich werde die Stelle für dich heraussuchen.«
    Oberlehrer Koevoet stiefelte zu unserer Bank, sah Jouri streng an und brummte: »Was hast du gesagt, Bürschchen? Die ganze Bibel durchgesehen? Zwölfhundert Seiten voller winziger Buchstaben? Nun mach mal halblang, du Angeber!«
    »Herr Oberlehrer«, erwiderte Jouri sehr höflich, »wir haben zu Hause die Konkordanz von Trommius im Regal. Die hat meine Mutter geerbt. Darin habe ich alle Stellen herausgesucht, in denen es um Beten, Falten, Hände, Augen und Schließen geht. Nirgendwo steht, dass man beim Beten die Hände falten und die Augen schließen muss.«
    »Ach, und was ist mit Psalm 141, ›mein Händeaufheben wie ein Abendopfer‹?«
    »Sind erhobene Hände gefaltet, Herr Oberlehrer?«, fragte Jouri ruhig.
    Lehrer Splunter blätterte in seiner Staatenübersetzung und las mit erhobener Stimme vor: »Mein Gebet müsse vor dir taugen wie ein Räuchopfer, mein Händeaufheben wie ein Abendopfer.« Bevor er jedoch den ganzen Vers zu Ende hatte vortragen können, entfuhr gleich nach dem Wort »Räuchopfer« meinen seit der Ankunft von Koevoet krampfhaft zusammengekniffenen Pobacken ein Knatterfurz. Noch Jahre später brachen meine Klassenkameraden, wenn sie mich zufällig trafen, in Lachen aus. Sich die Tränen aus den Augen wischend, sagten sie dann: »Weißt du noch, wie du damals ganz laut einen hast ziehen lassen, als Splunter die Stelle vorlas, wo das Gebet als ein Räuchopfer bezeichnet wird?«
    Wenn ich nachts wieder einmal nicht einschlafen kann, erheitert mich die

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