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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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und ich im Schutz der Koestler’schen Sonnenfinsternis geradewegs von der Kantine zu dem kleinen Park. Wir spazierten im Uhrzeigersinn auf den schmalen Pfaden und trafen jedes Mal Wilma und Carry, die entgegen dem Uhrzeigersinn gingen. Frech Laubblätter in unsere Richtung tretend, hüpfte das seltsame Wesen hinter ihnen her, das uns Albträume bereitete.
    Wie lange wir in diesem Stadium blieben? Erstaunlich lange, denn erst im darauffolgenden Frühjahr, als der Park sich gelb färbte – Osterglocken, Forsythien –, machten wir den nächsten Schritt. Mitten in dem kleinen Park stand ein Geräteschuppen, den man umrunden konnte. Ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass der Junge linksherum ging und das Mädchen rechtsherum. Hinter dem Schuppen stieß man dann buchstäblich auf den anderen, weil der Pfad dort sehr schmal war. Wollte man eine Kollision verhindern, musste man einen Schritt zur Seite machen und landete inmitten der in die Höhe schießenden Frühjahrsbrennnesseln. Selbstverständlich konnte man von einem Mädchen nicht erwarten, dass es in die Nesseln auswich. Aber wenn man selbst es auch nicht tat, dann gab es nur noch eine einzige Möglichkeit: Man musste sich gegenseitig festhalten. Einander linkisch umarmend, trat man dann hinter dem Geräteschuppen hervor. Selbst wenn man sich dann beim Wiedersehen mit den beiden Begleitern losließ, so galt doch, dass man von nun an »miteinander ging«. Rechen und Harken, im Schuppen verborgen, hatten die Betreffenden zusammengebracht.
    Auf diese Weise geschah es, dass Wilma mit mir und Carry mit Leendert ging. Wie aus heiterem Himmel – nun ja, aus heiterem Himmel, besser könnte man sagen: nach einem halben Jahr Schlendern – hatte ich auf einmal eine Freundin! Stolz erzählte ich Jouri, wie ich mit pochendem Herzen um den Geräteschuppen herumgegangen war, wie ich dahinter Wilma getroffen und sie umarmt hatte, um zu verhindern, dass sie in den Brennnesseln landete.
    »Zeig sie mir«, sagte Jouri in der Pause.
    Stolz deutete ich auf Wilma, die zusammen mit Carry über den Schulhof spazierte.
    »Mein Gott, ist die aber groß«, sagte Jouri naserümpfend.
    »Sie ist nicht größer als ich.«
    »Für mich zu groß.« Jouri deutete auf das seltsame Mädchen, das immer zwei Schritte hinter Wilma und Carry herhüpfte.
    »Wer ist das?«, fragte er.
    »Ich weiß nicht, wie sie heißt«, erwiderte ich, »die rennt ständig hinter Wilma und Carry her. Die tickt nicht ganz richtig.«
    »Ist aber viel hübscher als diese Wilma«, sagte Jouri. »Warum hast du die nicht hinter dem Geräteschuppen zwischen Brombeeren und Brennnesseln umarmt?«
    »Die ist vielleicht was für dich«, sagte ich.
    »Ich werd mich drum kümmern«, meinte er.
    Es war die Zeit der asiatischen Grippe. Viele Lehrer und Schüler erkrankten, ich auch. Unterrichtsstunden wurden zusammengelegt, sodass das Schulschwimmen unserer um die Hälfte der Schüler geschrumpften Klasse zusammen mit dem der ebenfalls dezimierten Parallelklasse stattfand, in die Wilma und Carry gingen.
    Später erzählte mir Leendert entrüstet, dass Jouri Wilma »mindestens vier-, fünfmal«, geschickt den Auftrieb des jedes Mal übertrieben gechlorten Wassers im Kolpa-Bad nutzend, hochgehoben hatte. Damals stand mir noch nicht der Ausdruck »archimedisches Balzverhalten« zur Verfügung. Den habe ich mir erst sehr viel später ausgedacht, doch über das Ergebnis dessen, was damals noch namenlos bleiben musste, konnte es kein Vertun geben. Als ich nämlich wieder während der heiligen Mittagsstunde mit Wilma, Carry und Leendert aus De Lier durch den kleinen Park schlenderte, unterzogen mich die beiden Mädchen einem Kreuzverhör, in dem es um Jouri ging. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich dort unter dem dichten Laub des bereits sommerlich wirkenden Parks der Anfechtung widerstand, Jouri nach Strich und Faden anzuschwärzen. Wie leicht wäre das möglich gewesen! Ich hätte ihnen sagen können, dass sein Vater im Krieg ein Kollaborateur gewesen war. Ich hätte ihnen – aber hätte sie das in irgendeiner Weise beeindruckt? – berichten können, dass sein Vater mir einmal in seiner Werkstatt anvertraut hatte: »Die Leute von der SS, das darfst du nie vergessen, das waren lauter Intellektuelle, Ingenieure, Rechtsanwälte, Schriftsteller, Gelehrte. Wie wir liebten sie wirkliche Musik. Das war ganz bestimmt kein Abschaum, im Gegenteil, das war die Elite, das waren die Allerbesten.« Hätte ihnen das zu denken gegeben? So

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