Schneeflockenbaum (epub)
die Berini werden die Solex hinwegfegen.«
Trotzdem ließ Jo Kerkmeester sich überreden. Obwohl es nie laut ausgesprochen wurde, war mir nur allzu klar, warum: Anders als in Maassluis kannte in Vlaardingen niemand seine Kriegsvergangenheit. Er konnte dort einen Neuanfang machen. Hinzu kam natürlich noch, dass Ende der Fünfzigerjahre niemand mehr über die Besatzungszeit sprach. Die Verarbeitung dieses großen Traumas begann erst sehr viel später. Als Kerkmeester sen. die Werkstatt am Schiedamseweg übernahm, musste Jouri jedoch damit rechnen, dass unsere Klassenkameraden entdeckten, was sich hinter dem Begriff »Operator« eigentlich verbarg.
Meine Mutter war heilfroh, als die Kerkmeesters umzogen. Vorbei, vorbei und, ach, endgültig vorbei war die Zeit, in der ich meine freien Stunden in der Werkstatt von Jouris Vater verbummelte. Das hatte sie gut erkannt, denn ich kam tatsächlich kaum noch dazu, in der neuen Werkstatt Dvořák zu hören. Der Unterricht am »Groen« begann um zehn vor acht. Meist fuhr ich morgens in aller Frühe in Maassluis los, doch viel Zeit, noch bei Jouris Vater vorbeizuschauen, hatte ich nicht. Manchmal schafften wir es gerade so, das »verdammt schöne Stück« anzuhören. Die 45er-Platte war inzwischen allerdings auch so abgenudelt, dass man die Musik kaum noch vom Rauschen unterscheiden konnte.
»Wir müssen mal rausfinden, von wem das verdammt schöne Stück ist, und dann kaufen wir eine Langspielplatte davon«, sagte Jouris Vater jedes Mal.
»Das wäre großartig«, erwiderte ich, »aber wie kriegt man so etwas raus?«
Das wusste Jouris Vater ebenso wenig wie ich, und daher blieben wir auch weiterhin auf das erhabene Nebenprodukt von einem Paar Socken angewiesen.
Auf dem »Groen« endete der Vormittagsunterricht um zwanzig vor eins. An einem Tag hatten wir noch eine sechste Stunde bis halb zwei, und an zwei anderen Tagen hatten wir auch am Nachmittag Unterricht. Alle, die von weiter weg kamen, aus De Lier, Maasdijk, Maasland, Hoek van Holland, Rozenburg, Maassluis und sogar aus Schiedam (wo man nicht über den Luxus eines christlichen Gymnasiums, das für Zeit und Ewigkeit ausbildete, verfügte), blieben über Mittag in Vlaardingen. Der Unterricht begann wieder um Viertel vor zwei und endete um Viertel nach vier. Wer mittags dablieb, durfte in der Kantine seine mitgebrachten Butterbrote essen.
Als Jouri gerade umgezogen war, ging ich oft mit, um die Mittagszeit bei ihm zu Hause zu verbringen. Doch schon sehr bald, das heißt im zweiten Jahr, erlag ich der Versuchung, mittags in der Schule zu bleiben. Die mitgebrachten Brote konnte man in der Kantine innerhalb von zehn Minuten in sich hineinschlingen, und danach blieb einem bis Viertel vor zwei noch jede Menge Zeit, in der alle Dagebliebenen an den Geschäften in der Van Hogendorplaan vorbeiflanierten. Es zeigte sich, dass die Zeit sogar reichte, ein Stück weiter zu spazieren, bis zu einem kleinen Park jenseits einer neu gebauten Kirche.
Was dieser Unternehmung einen gewissen Zauber verlieh, waren vor allem die aus der Geneverstadt Schiedam stammenden Mädchen aus den Parallelklassen.
Wie die Mädchen schlenderte man natürlich nie allein. Immer war man mit einem Klassenkameraden unterwegs. Mein ständiger Begleiter war Leendert, ein molliger Bursche aus De Lier. Während wir so umherflanierten, hoben wir schüchtern den Blick und schauten zu den anmutigen Wesen aus Schiedam. Leendert lächelte einfach hinüber, und sein Lächeln wurde tatsächlich erwidert. Na ja, Lächeln, es war eher etwas, das zwischen Lächeln und verlegenem Kichern lag. Auch ich versuchte es mit Lächeln und wurde ebenfalls mit unterdrücktem Gekicher belohnt.
Mein Lierer Kumpel und ich schlenderten also zu dem kleinen Park, und auf der anderen Straßenseite spazierten die kichernden Genevermädchen auch in Richtung der winzigen Grünanlage. Sehr bald schon flanierten wir jeden Tag zum kleinen Park, und auf der anderen Straßenseite spazierten die beiden Mädchen aus Schiedam, deren Namen mein Begleiter auf Umwegen hatte in Erfahrung bringen können: Wilma und Carry. Sehr verwirrend war, dass Wilma und Carry in einigem Abstand immer ein drittes Mädchen folgte, ein eigenartiges Wesen, das noch hüpfte und sprang, als käme es gerade aus dem Kindergarten. Aber obwohl es fast noch wie ein kleines Kind wirkte, wenn es uns frech ansah, funkelte Spott in seinen Augen.
An einem Oktobertag mit Nebelschleiern und tief hängenden Wolken gingen mein Freund
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